Hier zeigt sich der Experte

Rainer Moritz widmet sich dem letzten Geheimnis des Fußballs: Abseits.

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn sich alle vier Jahre anlässlich der Weltmeisterschaft auch diejenigen zum Fußball schauen zusammenfinden, die dem Rasensport sonst eher distanziert gegenüber stehen, dann fällt die Unterhaltung oft schwer, wenn es um die Feinheiten geht. Dass Lionel Messi ein guter Spieler ist und Deutschland eine „Turniermannschaft“, das werden die meisten der vor dem Fernseher versammelten Freunde mitbekommen haben, doch wenn im Verlauf der Partie strittige Schiedsrichterentscheidungen zu kommentieren sind – und bei welchem Spiel ist das nicht der Fall –, trennt sich schnell die Spreu der WM-Gucker vom Weizen der echten Fans. Eine Sollbruchstelle ist dabei die Abseitsregel. Wer eine Abseitsstellung erkennt, gehört zum engeren Kreis der Fußballfreunde.

Mit Rainer Moritz nimmt sich nun ein Literat des Themas an, der weiß, wovon er spricht, war er doch selbst als Schieds- und Linienrichter aktiv. Er führt in die Geschichte, das Wesen und den Sinn einer komplizierten und umstrittenen Regel ein, die Einige wegen ihrer besonderen Schwierigkeiten gerade deshalb aus dem Regelwerk des sonst sehr einfach strukturierten Spiels gestrichen wissen wollen. In der Tat: Die Regel ist schwierig. Man denke nur an den feinen Unterschied von „passivem Abseits“ (Spieler greift nicht ins Geschehen ein) zu „aktivem Abseits“ (Spieler greift ins Geschehen ein), der deswegen besonders schwer zu beurteilen ist, weil der Moment der Ballabgabe, nicht der Ballannahme zählt. Überhaupt macht diese Dynamik die Abseitsregel zum problematischen Unikum im Kanon der Fußballnormen: Hier ist eine große Deutungsleistung des Schiedsrichtergespanns erforderlich, und zwar nicht über Geschehenes (wie etwa bei einem Foulspiel), sondern über Geschehendes. Die Unparteiischen müssen die Spielsituation und ihre Entwicklung ganzheitlich erfassen, und das in Sekundenbruchteilen. Klar, dass es hier verhältnismäßig viele Fehlurteile gibt – Ärger und Frust inklusive. Auch klar, dass man sich – als Spieler, Fan oder auch Schiedsrichter – manchmal wünscht, es gäbe sie nicht, die Abseitsregel. Moritz hingegen hält sie für „intelligent“ und warnt vor einer Reform des Fußballsports: „Wer die Abseitsregel abschaffen möchte, läuft Gefahr, dem Spiel sein geheimes Regulativ zu rauben.“

Die Auseinandersetzung mit diesem Regulativ beginnt mit einer kleinen Kulturgeschichte des „Mysteriums Abseits“, in der Moritz aufzeigt, dass im Gegensatz zu anderen Regelwidrigkeiten oder Fußball-Begriffen das Phänomen Abseits auf viele Kreative inspirierend wirkte, auf Dieter Nuhr etwa („Männer haben 100 Gramm mehr Gehirn als Frauen – da ist unter anderem die Abseitsregel drin.“) oder auch auf Günther Grass („Nächtliches Stadion“).

Dem launigen Einstieg folgt die trockene Regelkunde. Mit Hilfe von Grafiken wird die Abseitsregel im Detail erklärt. Abseits ist zwar, wenn der Schiedsrichter pfeift, aber man sollte doch wissen, warum er pfeift. Zudem steht zu erwarten, dass man während der nächsten WM den weniger Informierten die Regel (mal wieder) erklären muss. Sein (neues oder gefestigtes) Wissen kann man in einem kleinen Test am Ende des Buchs überprüfen.

Hochinteressant ist die vom Autor recht ausführlich geschilderte Geschichte der Abseitsregel, die deutlich macht, wie sehr eine einzige Regel den Spielverlauf beeinflussen kann. Die Abseitsregel, so Moritz, „greift in das Grundgefüge ein und nötigt die Akteure viel stärker als andere Regeln dazu, das System ihrer Aufstellung zu überdenken“.

Das Entscheidende jedoch bei einer Regel, die bestimmte Spielzüge sanktioniert, ist es, in der Praxis die „Tatbestandsvoraussetzungen“ des Regelverstoßes eindeutig erkennen zu können. War es Abseits oder nicht? Diese, wie gesagt, oft sehr schwer zu beantwortende Frage erhitzt die Gemüter und der arme Mensch, der darüber zu entscheiden hat, nämlich der Schiedsrichter, ist „ohnmächtig“ und „einsam“. Zwar stehen ihm die beiden Assistenten an der Linie zur Seite, was wegen der perspektivischen Verzerrung gerade bei Abseitsentscheidungen von großer Bedeutung ist, doch das letzte Wort hat er.

Schließlich gehört es zur Taktik des Fußballs, sich zu überlegen, wie man die Regeln am besten für sich nutzen kann. Die beste Freundin der Abseitsregel ist die „Abseitsfalle“, ein „effektives“, aber auch „riskantes“ Instrument der Spielgestaltung in der Defensive. Einige Teams haben sich mit ihr einen Ruf erworben, etwa Ernst Happels HSV in den goldenen Jahren Ende der 1970er – Anfang der 1980er – Jahre.

Rainer Moritz führt uns souverän und unterhaltsam durch die Abgründe des Abseits. Fußballexpertise und literarisches Gespür vereinen sich gekonnt zu einem lehr- und abwechslungsreichen Lesevergnügen. Am Ende kann man getrost sagen: „Ich bin fit für Südafrika!“

Titelbild

Rainer Moritz: Abseits. Das letzte Geheimnis des Fußballs.
Verlag Antje Kunstmann, München 2006.
150 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3888974291

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