Die Kurzprosa des Inselkönigs

Der erste deutschsprachige Erzählungsband von Matthew Phipps Shiel ist erschienen, lässt aber viele Fragen unbeantwortet

Von Alexander Martin PflegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Martin Pfleger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Matthew Phipps Shiel zählt hierzulande immer noch zu jenen Klassikern der angloamerikanischen Fantastik, deren Bedeutung sich mehr an der Anzahl ihrer Erwähnungen in Essays und Lexika zur fantastischen Literatur denn anhand ihrer deutschsprachigen Übersetzungen ablesen lässt. Zollten ihm zu Lebzeiten so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie Dorothy Sayers, Rebecca West, H. G. Wells, Arnold Bennett, E. F. Benson, L. P. Hartley, J. B. Priestley, Hugh Walpole, Dashiell Hammett, Lawrence Durrell oder H. P. Lovecraft ihren Tribut, so fristete er bei uns seit seinem ersten Auftreten kaum mehr als ein Schattendasein.

Ende der 1970er-Jahre fand eine seiner bekanntesten Erzählungen, das Fragment „Xelucha“, Eingang in eine Reclam-Anthologie klassischer englischer Spukgeschichten. Anfang der 1980er-Jahre, als es noch völlig undenkbar war, dass ein Titel aus diesem Bereich auch nur das minimalste feuilletonistische Interesse auf sich lenken könnte, wenn er unglücklicherweise ausserhalb von Franz Rottensteiners „Phantastischer Bibliothek“ bei Suhrkamp oder der „Hobbit Presse“ des Klett-Cotta Verlages erschien, kam Shiels bekanntester Roman, die „Letzte-Mensch“-Geschichte „The Purple Cloud“, auf Grundlage der Originalfassung von 1902, mit einem detaillierten Nachwort des späteren SFWA-Präsidenten David G. Hartwell versehen, in der Übersetzung von Hans Maeter als Heyne Taschenbuch heraus. Erst in den 1990er-Jahren erschien wieder eine Erzählung von ihm – die Titelstory des vorliegenden Bandes – in einer Heyne-Anthologie.

Seine Erwähnungen in der Sekundärliteratur waren indes dazu angetan, das Interesse an seinem Werk lebendig zu erhalten. In Rein A. Zondergelds „Lexikon der phantastischen Literatur“ konnte man von einer Vielzahl fantastischer Abenteuerromane und Erzählungen sprachlich barock-archaisierenden Zuschnitts lesen, die dem Enzyklopädisten zwar größtenteils künstlerisch missglückt dünkten und zudem die reaktionären, schon durchaus faschistisch zu nennenden Ansichten ihres Verfassers offenbarten, von denen einige aber durchaus einen gewissen Anspruch auf literarhistorische Bedeutung innerhalb des fantastischen Genres für sich beanspruchen dürften. Dazu gehört insbesondere die Erzählung „Vaila“ oder, wie sie in ihrer späteren Fassung heissen sollte, „The House of Sounds“, die aber letztlich nichts weiter als eine sowohl inhaltlich als auch sprachlich geradezu ans Lächerliche grenzende Nachahmung von Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ darstelle, wohingegen sie H. P. Lovecraft, vor allem die überarbeitete Version, als Meisterwerk feierte.

Als sich während der 1890er-Jahre Arthur Conan Doyle vom Ruhm seines Sherlock Holmes zu emanzipieren versuchte, indem er diesen in den Reichenbachfällen bei Meiringen ein vorläufiges Ende finden ließ, gab es einige, die um den verwaisten Thron des Meisterdetektivs aus der Baker Street buhlten, und für nicht wenige Leser und Kritiker schien für einige Zeit Shiel mit seinem „Prince Zaleski“ aus dem gleichnamigen Erzählungsband von 1895 der vielleicht aussichtsreichste Aspirant zu sein. Des Prinzen berüchtigtster Fall ist ohne Zweifel in der Geschichte „The S. S.“ dokumentiert, die von den Machenschaften eines weltweit operierenden Geheimbundes handelt, der „Society of Sparta“, die es sich zur Aufgabe gesetzt hat, alle Kranken und Schwachen zu töten, diese Unternehmungen aber wie Selbstmord aussehen zu lassen. Shiel beschränkte sich jedoch nicht auf das Feld der Detektivgeschichte, sondern versuchte sich in den unterschiedlichsten Genres. Er behandelte Themen der Décadence auf eine Weise, die seine Romane und Erzählungen sich auf dem Jahrmarkt der Sensationsliteratur zeitweilig äußerst erfolgreich behaupten ließ, die allerdings nicht verhindern konnte, dass sie letzten Endes Geheimtipps blieben.

Brian W. Aldiss – keineswegs ein Bewunderer Shiels – äußerte einmal, dass man die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine Wiederholung des 19. nach einem Drehbuch von Shiel ansehen müsse. Jugendwahn, Übermenschenkult, Vernichtungsfantasien – all dies findet man in seinen Werken in einem zwischen Baudelaire und Boulevard, zwischen Swinburne und „The Strand“ oszillierenden, auf manchen Leser mit literarischen Anspielungen überfrachtet wirkenden Stil dargeboten. Aldiss attestierte diesem angesichts von Sätzen wie „As a brimming maiden, out-worn by her virginity, yields half-fainting to the dear sick stress of her desire – with just such faintings, wanton fires, does the soul, over-taxed by the continence of living, yield voluntary to the grave, and adulterously make of Death its paramour.” (In deutscher Übersetzung: „Wie eine alte Jungfrau, von ihrer Jungfräulichkeit verdorrt, sich halb ohnmächtig der vertraut wehmütigen Qual ihres Verlangens hingibt – mit solcher in Ohnmacht versinkender, brennender Lust gibt sich die Seele, überdrüssig der Enthaltsamkeit des Lebens, dem Grabe hin und nimmt sich ehebrecherisch den Tod zum Geliebten.“) aus „The S. S.“ eine geradezu preiswürdige Groteskheit.

Sehr direkt geht es auch in dem Roman „The Lord of the Sea“ (1901) zu, der Geschichte eines fanatischen Antisemiten, der zunächst aus Rache die Unterdrückung und Entrechtung der Juden forciert, schließlich aber erfährt, dass er – Schirinowski lässt grüssen – selber jüdischer Abkunft ist und in Palästina einen jüdischen Staat gründet. Mit „The Yellow Danger“ von 1898 – wie der Titel bereits nahelegt, der Geschichte eines „schlitzäugigen Schurken“ – sollte Shiel schließlich, zumindest für den englischen Sprachraum, ein ungutes Schlagwort liefern, das selbst Lesern geläufig sein dürfte, die nie etwas von Shiel gehört haben.

Diese durchaus als skandalumwittert anzusehenden Texte liegen aus nachvollziehbaren, wenngleich nicht immer berechtigten Gründen nicht auf Deutsch vor, aber gerade ihr Nimbus wirft die Frage auf, worin denn nun eigentlich die Bedeutung Shiels begründet liegt und wie sich die Faszination erklären lässt, die er auf solch eine illustre Schar von Bewunderern auszuüben vermochte. Zu einer solchen Erklärung trägt die erste deutschsprachige Sammlung einiger seiner Kurzgeschichten leider nichts bei, obwohl gerade sie ideal dazu disponiert gewesen wäre – und dies vor allem aufgrund der Person ihres Herausgebers.

Das vorliegende Buch ist keine deutschsprachige Originalzusammenstellung, sondern die deutsche Ausgabe der ersten spanischen Kurzgeschichtensammlung Shiels, welche von Javier Marías zusammengestellt wurde, der in einigen seiner Romane Anspielungen auf Klassiker der englischsprachigen Fantastik um 1900 einbaute, insbesondere auf Arthur Machen – und eben auf Shiel. Wir wollen die Angelegenheit nicht schlecht reden: Es liegen nun ein paar interessante Texte in erwartungsgemäß guter Übersetzung gesammelt vor – die Titelgeschichte in einer Neuübersetzung, die erste Fassung von „Vaila“ (die von Lovecraft gerühmte zweite Fassung „The House of Sounds“ erschien 2002 in einer Anthologie des Festa Verlages erstmals auf Deutsch) sowie vier andere Erzählungen und zwei autobiografische Texte. Ergänzt wird das Buch durch einen Kommentarteil von Antonio Iriarte, der sowohl zahlreiche literarische Anspielungen in Shiels Werken entschlüsselt, als auch den verschiedenen biografischen Verästelungen bis hin zu Oscar Wilde und Knut Hamsun nachspürt, gegenüber der spanischen Ausgabe jedoch „eine adaptierte und leicht gekürzte Fassung“ darstellt – warum auch immer. Wahrhaft abgerundet wäre das Ganze gewesen, hätte Marías einen großen Essay, notfalls ein kurzes und prägnantes Vor- oder Nachwort beigesteuert, doch seine Beiträge zu diesem Band sind enttäuschend und lassen es zweifelhaft erscheinen, ob sie einen gelungenen Einstand leisten.

Hartwells Ausführungen zu Shiel im Allgemeinen und zu „The Purple Cloud“ im Besonderen waren entschieden werkbezogen – Shiel wurde unter den frühen Science Fiction Vorläufern um 1900 in die Tradition Poes im Unterschied zu den Traditionen von Jules Verne und Wells eingeordnet, sein Stil als häufig missglückte, selten als wirklich gelungen zu erachtende Kombination seiner Idole Thomas Carlyle und Poe charakterisiert und seine Charaktere als letzten Endes künstlich herausgearbeitet – entweder mithilfe vieler Kunstgriffe auf interessant getrimmt oder klischeebehaftet belassen. Auch in seinen autobiografischen Texten, so Hartwell, habe Shiel eher eine Kunstfigur entworfen, möglicherweise ein souveränes Idealbild seiner selbst, statt ein zutreffendes Bild von sich zu zeichnen, weshalb man diesen mit Vorbehalten begegnen sollte. Ein biografisches Detail erwähnt Hartwell nur als Kuriosität am Rande: Shiel legte großen Wert darauf, den Titel eines Königs der Karibikinsel Redonda führen zu dürfen.

Diese Angelegenheit ist für Marías indes von eminenter Wichtigkeit, da er selbst seit einigen Jahren diesen Titel als legitimer Nachfolger Shiels führt und so auch die Rechte an seinem Gesamtwerk besitzt. Marías hat offensichtlich einen großen Freundeskreis. Auf prominente Namen wie Francis Ford Coppola, Eric Rohmer, Pedro Almodóvar, António Lobo Antunes, Claudio Magris, Antonia S. Byatt, J. M. Coetzee, César Romero, Alice Munro, W. G. Sebald, Pierre Bourdieu sowie seinen deutschen Verleger Michael Klett und die Übersetzerin Carina von Enzenberg stößt man in den Listen der Ehrenbürger, Preisträger oder was auch immer des Königreichs Redonda, die Marías dem Band beigefügt hat. Welcher Art jedoch deren Bezug zu Shiel ist, inwiefern Shiel auf das Schaffen der Erstgenannten einen konkreten künstlerischen Einfluss ausübte oder diese in einer von Shiel begründeten Tradition stünden, wird nicht ersichtlich. In seinem Vorwort weist er lediglich auf die Shiel-Reminiszenzen in seinen Werken hin und referiert in groben Zügen die „Geschichte“ des Königreichs Redonda von Shiel bis Marías. Nichts also von „Leiden und Größe Matthew Phipps Shiels“, sondern leider nur Vereinsinterna aus Marías´ exklusivem Kegelclub.

Dem unvoreingenommenen Leser bietet sich folglich eine zwar abwechslungsreiche Sammlung kurzer Erzählprosa dar, die sich sehr schön in das Gesamtbild angloamerikanischer Fantastik und Abenteuerfiktion um 1900 einfügt. Es sind Erzählungen, die Motive Poes oder auch Villiers de l’Isle-Adams, den Shiel übersetzte, aufgreifen und weiterführen, und die den Vergleich mit entsprechenden Werken von Wells, Robert Louis Stevenson, Jack London und wiederum Doyle nicht zu scheuen brauchen. Worin jedoch das Besondere des Shiel´schen Oeuvres läge, und was den Kult um sein Werk erklären und den Firlefanz um das Königreich Redonda nachvollziehbar machen könnte, dürfte hieraus kaum ersichtlich werden. Ein kleiner rezeptionsgeschichtlicher Lichtblick – aber sonst? Diese Chance wirkt vertan, aber es könnten sich durchaus noch weitere bieten, die sich besser nutzen ließen: In den Anmerkungen verweist Iriarte auf „Cold Steel“ von 1899. Das sei „Shiels vierter Roman (und zugleich einer seiner besten)“. Man vernimmt die Botschaft dankbar und harrt, neugierig geworden, einer spanischen Ausgabe des Buchs – nicht zuletzt in der Hoffnung, dass dann Klett Cotta nachzöge; nach Möglichkeit dann aber mit etwas mehr Hintergrundinformationen über Shiel von Marías.

Titelbild

Matthew Phipps Shiel: Huguenins Frau. Phantastische Erzählungen.
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Javier Marías.
Übersetzt aus dem Englischen von Wolfgang Krege und aus dem Spanischen von Carina Enzenberg.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006.
251 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 3608936319
ISBN-13: 9783608936315

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