Wie mündig war der „mündige Bürger“?

Jürgen Kniep zeichnet in „Keine Jugendfreigabe!“ ein höchst anschauliches Film-Sittenbild der alten BRD

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ziemlich genau in der Mitte seiner – weil mit bewundernswerter Akribie recherchierten und luzider Eloquenz präsentierten – bravourösen Studie über die bundesrepublikanische Filmzensur zwischen 1949 und 1990 befasst sich der Neuhistoriker Jürgen Kniep, derzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Haus der Bayerischen Geschichte, mit dem 1. Teil des „Schulmädchen-Reports“ von 1970 („Was Eltern nicht für möglich halten“).

Als 1977 eine Schmalfilm-Version dieses „enormen Kassenerfolgs“ kursierte, beantragte das Stuttgarter Sozialministerium dessen Indizierung mit der folgenden Begründung: „Von der Selbstbefriedigung mit dem Stofftier über den lesbischen Gruppensex junger Mädchen zum ersten Beischlaf nach ermutigendem Weingenuss soll die möglichst frühe geschlechtliche Betätigung helfen, die nötigen Erfahrungen zu sammeln und sich so u.a. vor einem seelischen Schock zu schützen, falls man in eine Vergewaltigungssituation gerät. […] Demgegenüber wird eine auf Ehe und Familiengründung hinzielende Erziehung zur verantwortungsbewußten Integration der Sexualität in die gesamtmenschliche Persönlichkeit als veraltet, lebensfremd und lächerlich abgetan. Damit steht der Film in sozialisationsfeindlicher und sozialschädlicher Weise im Gegensatz zu einer der grundgesetzlichen Erziehungspflicht und dem Schutz von Ehe und Familie gemäßen sexuellen Aufklärung durch Erziehungsberechtigte.“

In dieser Inkriminierung ehe- und familienzerstörender Tendenzen wirkte damals gewiss noch eine humanistische Tradition nach, die seit der Antike Bestand hatte. Bei Horaz etwa ist zu lesen:

„An Sünden reich hat unsere Zeit zuerst
Den Ehebund und Haus und Geschlecht befleckt:
Aus diesem Urquell floß des Unheils
Strom auf das Land und das Volk der Römer.

Begierig übt in jonischen Tänzen sich
Kaum reif die Jungfrau, Künste der Buhlerei
Lernt sie schon jetzt, auf Liebeshändel
Sinnt sie vom zartesten Kindesalter…“

Man wird eine derartig moralisierende Sicht fraglos „konservativ“ nennen, zumal das, was der „Schulmädchen-Report“ damals zu bieten hatte, heutzutage beim Publikum jeden Alters bestenfalls ein müdes Lächeln hervorrufen dürfte. Leider endet Knieps Untersuchung mit dem Jahr 1990, so dass wir nicht erfahren, wie er die letzten Ausprägungen der bildmedialen Sexuallibertinage film-, kultur- und sittengeschichtlich einordnen würde.

Kniep diskutiert den „Schulmädchen-Report“ neben anderen Produkten der „Sexwelle“ in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren sowie ihre Bewertung durch die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft), um eine These zu exemplifizieren: Dass ab etwa 1965 in den westlichen Gesellschaften ein Tabu nach dem anderen zerbrach und dass insbesondere auf dem Gebiet der visuellen Sexualinszenierungen eine beispiellose „Entnormativierung“ stattfand, besagt keineswegs, dass dies ein „linearer Prozess hin zu einer immer größeren Liberalität in allen Bereichen“ gewesen wäre; „vielmehr veränderte sich der gesellschaftliche Wertekanon ständig, nicht ohne neue Grenzen entstehen zu lassen“. – Der Lübecker Philosoph Stefan Diebitz („Seelenkleid“, 2005) spricht in einem ähnlichen Kontext von dem „gleichbleibenden Quantum von Scham“.

Konkret heißt das hier: Vor dreißig oder vierzig Jahren war es noch völlig problemlos, wenn in den Massenkinofilmen ein 12jähriges Mädchen vom Stiefvater entjungfert wurde; und Vergewaltigung auch von Minderjährigen ging als „Kavaliersdelikt“ durch. Demgegenüber fielen aber koitale Körperbewegungen der FSK-Zensur zum Opfer. Selbstverständlich durfte damals wie heute das Innere des weiblichen Genitals ebensowenig gezeigt werden wie ein erigierter Penis. Das galt und gilt nun einmal als pornografisch und wurde und wird nur in Nischen zugelassen. Erst ab circa 1980 gerieten die Tatbestände der Vergewaltigung und des Kindesmissbrauchs in den Fokus der Filmgutachter und wurden in den populären Sexfilmen nicht länger geduldet.

Ein Leser Knieps, der jene wilden Jahre erlebt hat, wird ihm ebenso staunend wie amüsiert für die wie nebenher mitgelieferte Aufklärung danken, dass der damals geläufige Ausdruck „bumsen“ eine Erfindung der FSK war: „‚Ficken‘ galt der FSK als ‚verrohend‘, weshalb die Vokabel lediglich in einigen künstlerisch anspruchsvollen Filmen akzeptiert wurde, in denen sie dramaturgisch notwendig schien. Von diesen Ausnahmen abgesehen wurde das als vulgär betrachtete Wort geschnitten oder durch eine saloppere Formulierung [„bumsen“] ersetzt.“

Überhaupt hält dieses Buch so manche Überraschung bereit, die unseren Blick auf die Entwicklung des altbundesrepublikanischen Werte- und Normensystems wenn nicht zu ändern, so doch zu schärfen vermag. So etwa, wenn man erfährt, dass es die „Bild“-Zeitung war, die 1969 das Gerücht in die Welt setzte, der Film „Die Sünderin“ von 1951 sei in der Frühzeit der BRD wegen der paar Sekunden verschwommener Barbusigkeit Hildegard Knefs von Kirchenvertretern und anderen prüden Zeitgenossen skandalisiert worden. Wahr ist jedoch, so Kniep, dass 1951 sowohl konfessionelle Filmprüfer als auch die breite Öffentlichkeit an den nackten Brüsten der Hauptdarstellerin kaum Anstoß nahmen und sich vielmehr gegen den demoralisierenden und entsittlichenden Gesamttenor des Films wandten, der seinerzeit überdies von gebildeten Leuten als künstlerisch wertlos und kitschig wahrgenommen worden war. Eine Koblenzer Initiative „besorgter Bürger“ wählte zur Begründung ihrer Ablehnung diese Charakterisierung: „Die oberflächliche Verherrlichung der Prostitution, die verklärende Darstellung der wilden Ehe, die als Opfertat hingestellte Hingabe gegen Geld sowie die Rechtfertigung der Tötung auf Verlangen und des Selbstmords.“

Warum 18 Jahre später das Springer-Blatt mit falschen Behauptungen die nackte filmhistorische Wahrheit verschleierte, weiß der Himmel. Jedenfalls lag der Springer-Verlag 1969 mit den revoltierenden Studenten insofern auf einer argumentativen Linie, als man die hergebrachte Sexualmoral denunzierte. „Bild“-Zeitung, Oswalt Kolle und die antibürgerlichen Sexualbefreier waren sich einig: Fort mit jeder Scham! Wer da nicht mitzog, war moralisch diskreditiert.

Als in der 1980er-Jahren der Handel mit Videokassetten boomte, richtete sich die Aufmerksamkeit der Zensoren vornehmlich auf die ausufernden Gewaltdarstellungen in den Horrorfilmen. Während man in puncto Nacktheit und Sexualität nicht hinter die liberalen Standards der 1970er-Jahre zurückfiel, regte sich nunmehr aber große Besorgnis über die negativen sozialethischen Folgen des Gewaltkonsums im Heimkino, sodass die Prüfer auf diesem Feld wieder zu mehr Restriktivität tendierten und in der Öffentlichkeit der Ruf nach kräftigeren staatlichen Eingriffen erneut lauter wurde.

Schließlich resümiert Kniep: „Prägend für die Filmkontrolle in Westdeutschland waren Zensurmotive, die sich bereits im Kaiserreich herausgebildet hatten: Sexualität, Politik, Gewalt, Kriminalität, Religion und gesellschaftliche Leitbilder; in den 1950er Jahren trat noch die Kategorie des Militarismus hinzu. Diese Bereiche veränderten sich im untersuchten Zeitraum auf je unterschiedliche Weise, doch lassen sich ganz allgemein Konjunkturen bei den Grenzen des Zeigbaren ausmachen: Grosso modo erscheinen die späten 1950er Jahre tendenziell als Zeitpunkt der strengsten, die späten 1970er als Moment der laxesten Grenzziehungen.“

Freilich bietet Jürgen Knieps umfassende Geschichte der Filmzensur in der „Bonner Republik“ Analysen und Einsichten, welche die Grobrastrigkeit des Periodisierungsschemas sprengen. Wie waren die Prüfungsinstanzen (speziell FSK und Bundesprüfstelle) organisiert? Wie war ihr Verhältnis zueinander beschaffen? Welchen Einfluss hatte die Filmwirtschaft, welchen die Medienöffentlichkeit und welchen die politischen Parteien oder die „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ im Fluss der Zeiten? Welche Kriterien galten wann und warum bezüglich der Jugend- oder Erwachsenenfreigabe? Welche unterschiedlichen Maßstäbe wurden an hoch- beziehungsweise massenkulturelle Filme angelegt? Solche Essenz, Struktur und Funktion des „komplexen Gefüges“ Filmzensur tangierenden Fragen erörtert der Autor in anschaulicher Weise, indem er die Prozeduren der Entscheidungsfindung zumeist am Beispiel eines paradigmatisch-problematischen Films rekonstruiert.

Knieps Buch ist ein ganz ausgezeichneter, in jeder Hinsicht lesens- und empfehlenswerter Beitrag zur Moral- und Sittengeschichte Westdeutschlands, dessen Lektüre durchwegs belehrt und mit seiner wunderbaren darstellerischen Klarheit erfreut.

Titelbild

Jürgen Kniep: "Keine Jugendfreigabe!". Filmzensur in Westdeutschland 1949-1990.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
444 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783835306387

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