Stille Katastrophe

Doris Mayers Roman „365“ über die Quintessenz von Weltuntergangs- und Zombieszenarien

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Doris Mayer hat einen sehr intelligenten und sehr einfühlsamen Roman geschrieben. Die Ausgangsituation, mit der sich die Protagonisten zu Beginn des Romans überraschend konfrontiert sehen, ist schnell beschrieben. Die Zeit bleibt stehen. Oder anders formuliert: die Menschen erstarren, sind bewegungslos, bis auf einige wenige Ausnahmen – Mayers Protagonisten. Diese irren in einer Welt umher, in der ihre Mitmenschen wie Schaufensterpuppen in der Gegend herumstehen, sich nicht bewegen, nicht atmen, einfach angehalten in ihrem Leben sind. Mayer skizziert verschiedene Personen und schildert deren Umgang und Konfrontation mit der neuen und ungewohnten Situation.

Ein Junge mit Rastalocken, ein Manager, eine Frau, kurz vor dem Aufbruch zu einer Geschäftsreise, eine ältere Krankenschwester, deren Mann vor kurzer Zeit verstorben ist und ein offensichtlich latent gewalttätiger bärtiger Mann, genannt der Bärtige – alle sind Teilnehmer an einem Ballett, das nur wenige Tänzer hat. Sie reagieren in der neuen Lebenssituation alle ähnlich, versuchen erst, die gewohnten Verhaltensweisen aus dem Alltag auf ihren neuen Alltag – natürlich vergeblich – anzuwenden. Dabei belässt Doris Mayer die Ursache der Katastrophe im Dunkeln. Ist es Chemieunfall, eine Kraftwerksexplosion, Krieg oder eine Naturkatastrophe unbekannten Ausmaßes?

Letztendlich geht es bei den Protagonisten auch nicht um die Ergründung der Ursachen für ihre neue Situation und für die Erstarrung ihrer ehemaligen Mitmenschen. Sie sind mit der Befriedigung ihrer primären Bedürfnisse beschäftigt, denn neben der Erstarrung der Mitmenschen ist auch das komplette Stromnetz ausgefallen, nicht einmal Batterien funktionieren. Man muss sich mit Petroleumlampen, Holzfeuer und der Suche nach unverdorbenen Lebensmitteln auseinandersetzen, wenn man in der neuen, unwirtlichen Welt überleben möchte. Die eigentliche Herausforderung liegt jedoch woanders: „Nach einigen Minuten erhob sich die Frau. Ihr Blick wurde zu Gestalten hingezogen, so sehr sie sich auch bemühte, ihn abzuwenden. Sie hörte ihren eigenen Atem. Diese unheimliche Stille. Das Mädchen vorne beim Fenster war nun von der Bank gerutscht, lag mit angewinkelten Beinen auf dem Boden.“

Der kleine Junge, den die Krankenschwester gefunden hat und betreut, kämpft mit einem Schock, als er die Erstarrten erblickt: „Alle tot, meinte der Junge.“ Hier fügt sich Mayers Roman in die legendären Beschreibungen von den großartigen Szenarien des Zurückgeworfenseins auf das Selbst ein. Damit wird auch der Untertitel mit dem Verweis auf „Weltuntergangs- und Zombieszenarien“ deutlich: Es geht um das Individuum, ohne Religion, ohne Philosophie oder spirituelle Hilfe. Nichts bleibt, außer der Erkenntnis des eigenen Ichs und seiner Einsamkeit. Jeder reagiert anders, selbst als sich die Situation scheinbar wieder normalisiert hat und alle Menschen sich wieder bewegen: „Mit dem Gewitter war das Leben in die Menschen zurückgekehrt. Und der Mann hatte die Gefangenschaft der Einsamkeit mit jener einer geschlossenen Anstalt getauscht.“ Wie die Menschen mit der Konfrontation mit dem Selbst zurecht kommen, davon berichtet – im Vergleich zu den an Thriller- und Actionelementen reichen Zombiefilmen – Doris Mayer still und sensibel, einfühlsam, detailreich und letztendlich doch messerscharf – und damit sehr unterhaltsam und philosophisch. Das hätte man so nicht erwartet.

Titelbild

Doris Mayer: 365. Roman.
Picus Verlag, Wien 2010.
220 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783854526629

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