Mehr als nur große Augen

Miriam Brunner führt in die Welt des Manga ein

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein Zweifel: Comics sind im Kommen. Das geht schon seit einigen Jahren so – mittlerweile gibt es offizielle Alben zu Goethe- und Schiller-Gedenkjahren, und 2008 stellte gar die ehrwürdige Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt 60 Jahre „Comics made in Germany“ aus. Ähnliches gilt für die Literaturwissenschaft, die in den letzten Jahren mehr Monografien und Sammelbände zum Thema hervorbrachte als zu irgendeinem Standpunkt seit den frühen 1970er-Jahren. Damals klagten vor allem germanistische Adorno-Epigonen die vorgeblich entfremdete „Massenzeichenware“ an, Propaganda für den Spätkapitalismus zu betreiben.

Für die Forschung von heute gilt das nicht mehr, sie nimmt ihre Materie als eigenständige Kunstwerke ernst. Das ist keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem Comics nie im selben Maße zur Nationalkultur gehörten wie in Frankreich, Belgien, den USA oder Italien. Trotzdem bleibt im Schatten des Booms noch viel zu entdecken. Wenig Aufmerksamkeit wird nämlich einem Sektor zuteil, der in Deutschland etwa seit Mitte der 1990er-Jahre erstaunliche Verbreitung gefunden hat, nämlich der japanische Comic oder Manga. Ein ganz neues Phänomen ist die japanische Zeichenkunst hierzulande nicht: die klassischen ZDF-Zeichentrickserien der 1970er-Jahre – beispielsweise „Wickie“, „Die Biene Maja“ oder „Heidi“ – stammen allesamt aus japanischen Studios, wurden damals aber als „urdeutsche“ Produkte rezipiert. Diese Trickfilme, so genannte Anime, wären nicht möglich gewesen ohne Japans lange und reiche Comic-Tradition, deren Wurzeln bis vor den zweiten. Weltkrieg zurückreichen.

Die deutsche Leserschaft des Manga ist noch verhältnismäßig jung, und es gibt eher wenige Überschneidungen mit älteren Comiclesern oder gar der neueren Forschung. Daher kursieren viele Vorurteile über das Medium, etwa, dass es lediglich ein Abklatsch westlicher Comictraditionen sei oder pauschal Sex und Gewalt verherrliche. Schon darum war es längst Zeit für eine gründliche wissenschaftliche Einführung, die auch Nicht-Experten die Welt des Manga zugänglich macht. In diese Lücke stößt nun Miriam Brunner mit ihrer Osnabrücker Dissertation zur Erzähltradition des Mediums.

Was dieses Buch besonders lesenswert macht, ist, dass Brunner sich ihrem Thema gleich aus mehreren Perspektiven widmet. Zum einen zeigt sie in einem ersten, historischen Teil die Entwicklung des Mediums und seine einzigartige Mischung aus Elementen der traditionellen japanischen Bildkultur und westlicher Comics. Hier stellt sie einige der wichtigsten Genres vor, von den gekiga, die sich ernsthaften Themen der Zeitgeschichte und der Gegenwart widmen, bis hin zu speziellen Comics für eine weibliche Leserschaft, die sich freilich mit dem Selbstverständnis der japanischen Frauen über die Jahrzehnte hin wandeln. Nebenbei werden die jeweils wichtigsten Künstler porträtiert, wie etwa der Großmeister Osamu Tezuka (1926-1989), dem die Welt Figuren wie „Astroboy“ und „Kimba, der weiße Löwe“ (das vermutliche Vorbild für Disneys „Lion King“), aber auch mehrere „Faust“-Adaptationen verdankt.

Im zweiten und ausführlichsten Teil widmet sich Brunner den „visuellen Strategien“ des Manga, also den Elementen der Bildgestaltung, die die typische Erzählweise des Mediums ausmachen. Dazu gehört nicht nur die Anordnung von Panels und Bildausschnitten, sondern auch die Darstellung von Emotionen, Bewegungen und Geräuschen innerhalb der einzelnen Bilder. Hier wird die Eigenart des Manga am deutlichsten, denn in vielen dieser Elemente arbeiten japanische Künstler ganz anders als westliche Comics, von der simultanen Darstellung mehrerer Bewegungsabläufe bis hin zu den Sprechblasenformen, die jeweils für ganz unterschiedliche Sprecher und deren Emotionen stehen können. Brunner zeigt dabei, dass der japanische Comic für westliche Leser nicht einfach und selbstverständlich zu rezipieren ist (schon die Leserichtung von rechts nach links verlangt eine Eingewöhnungszeit), sondern ein eigenes, subtiles System bildet, in das der Neuling erst nach und nach hineinkommt. Gerade das aber kann die Faszination des Ganzen ausmachen.

Im dritten, abschließenden Teil bearbeitet Brunner exemplarisch ein zentrales Motiv des Manga – nämlich die Diskrepanz zwischen Geschlecht und Rolle in Form des Cross-Dressings. Dazu gehört insbesondere der Auftritt von weiblichen Figuren, die in männlichen Rollen leben, um sich in der Gesellschaft zu bewähren. Angesichts der traditionellen Geschlechterrollen, die man mit Japan üblicherweise assoziiert, mag das Thema überraschen. Brunner arbeitet aber heraus, dass der Rollenwechsel teilweise auf ganz andere Wurzeln zurückgeht als in westlichen Gesellschaften, in denen Cross-Dressings oft sexuell, in der Regel homosexuell konnotiert ist. In Japan gibt es seit langem die Theatertraditionen des Kabuki, in dem alle Rollen, auch die weiblichen, von Männern gespielt werden, und der Takarazuka-Revue, in der umgekehrt ausschließlich Frauen spielen. Was hier gezeigt wird, lässt sich nur vor dem Hintergrund der japanischen Kultur verstehen. Hier mit westlichen Modellen wie der Subversion der Geschlechter à la Judith Butler zu argumentieren, würde auf falsche Fährten führen.

Über weite Strecken ist Brunners Buch lesenswert und überzeugend. Flüssig, konzise und mit Liebe zum kulturellen Detail geschrieben, macht der Text tatsächlich klar, worin hier „die Faszination der Bilder“ liegt, auf die ihr Titel anspielt – nämlich in der gleichzeitigen Fremdheit und Vertrautheit des Manga für uns westliche Leser. Manchmal wünscht man sich sogar eine ausführlichere Darstellung, etwa bei der Vorstellung der wichtigsten Genres und Künstler im ersten Kapitel. Hervorzuheben ist auch, dass Brunner mit einigen verbreiteten Vorurteilen aufräumt. Zum Beispiel, dass die Bezeichnung Manga auf den berühmten Holzschnittkünstler Hokusai zurückgehe. Oder eben, dass Mangas per se gewaltverherrlichend seien und damit Kinder verrohen lassen. Erstens sind die Argumente gegen derlei „Bildidiotismus“ nicht neu, sondern gehören zu den uralten Hüten, mit denen hierzulande schon vor sechzig Jahren die angebliche „Sprechblasenpest“ bekämpft wurde. Zweitens gibt es tatsächlich einige Manga-Genres, die Gewalt und Erotik darstellen (die gekiga gehören dazu, auch wenn die Figuren mit denselben übergroßen Augen und rundlichen Formen auftreten wie in anderen Genres auch). Es ist eben ein Irrtum, dass sich Comics immer und überall an Kinder und Jugendliche als Zielgruppe wenden. Indem sie mit derlei Irrtümern aufräumt, eröffnet Brunner tatsächlich neue Horizonte.

Einiges gibt es aber auch zu bemängeln. So ist der Forschungsüberblick zum Manga viel zu knapp gehalten, um sich als Laie ein fundiertes Bild machen zu können, und einige Flüchtigkeitsfehler wären zu vermeiden gewesen. Dazu gehört die Behauptung, dass der Westen in arabischer Schrift schriebe – bekanntlich schreiben wir in lateinischer Schrift, während unsere Ziffern arabischen Ursprungs sind. Zudem ist nicht alles, was Brunner als typisch für den japanischen Comic darstellt, nur dort zu finden. Gerade viele Beobachtungen, die sie zur Gestaltung von mitten ins Panel gezeichneten Onomatopoetika (Geräuschworten) macht, zur Form der Sprechblasen und zur typografischen Gestaltung des Blasentextes, lassen sich ganz genauso auf westliche Comics anwenden. Ohnehin stellt es ein Problem dar, dass die japanischen Ursprungstexte in verschiedenen westlichen Sprachen wiedergegeben werden müssen. Die Gefahr einer Verfälschung ist bei aller Sorgfalt immer gegeben, zumal keine einheitlichen Regeln für die Übertragung der japanischen Schriftzeichen existieren. Überhaupt hätte man sich eine stärkere Reflexion der Übertragung aus einer Kultur und Sprache in die andere gewünscht. Von dort aus hätte man nämlich auch erörtern können, worin die „Faszination der Bilder“ für die breite europäische Leserschaft denn nun genau besteht.

Solche Punkte verblassen aber neben den Verdiensten dieser lesenswerten Arbeit. Dass Brunner sie mit Faszination und Engagement geschrieben hat, merkt man ihr positiv an. In diesem Sinne: domo arigato!

Titelbild

Miriam Brunner: Manga - Die Faszination der Bilder. Darstellungsmittel und Motive.
Wilhelm Fink Verlag, München 2009.
218 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783770548798

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