Mehr ist mehr

Wolfgang Frühwald fragt in seinem jüngsten Band, wie viel Sprache wir brauchen

Von Albert CoersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albert Coers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Less is more“, „weniger ist mehr“ – dieses Oxymoron, das unter anderem als Ausspruch Mies van der Rohes bekannt geworden ist, steht meist als erwartete Antwort im Hintergrund, wenn wie in letzter Zeit immer häufiger in Artikel- und Buchtiteln gefragt wird: „Wie viel (Wachstum, Geld, Staat, Möbel…) brauchen wir?“ Reduktion auf das „Wesentliche“ scheint das Gebot der Stunde, die Vereinfachung, Einsparung und Kürzung der Weltlage angemessen.

Doch hat das Unbehagen an der Reduktion ebenfalls Tradition, siehe die Abwandlung des Mies-Zitats durch den Architekten Robert Venturi: „Less is a bore“ – „weniger ist langweilig“. Auf die Hinterfragung von Reduktionismus zielt auch das Buch von Wolfgang Frühwald für einen Bereich, der allerdings schwerer quantifizierbar scheint als Architektur: den der Sprache. Eine erste Antwort erfolgt augenfällig mit dem Buch selbst.

Die Ausstattung ist fast bibliophil zu nennen mit ihrem hellgrünem Schutzumschlag, dem dazu kontrastierenden weinroten, strukturgeprägten Kartoneinband und schwarzem, ebenfalls geprägtem Vorsatzpapier – ein Gestaltungskonzept der Berlin University Press, das sich von den sonst meist üblichen Paperbacks wissenschaftlicher Verlage abhebt; es erinnert an die schönen Bände der Wagenbach-Bibliothek – und in der Tat ist in beiden Fällen der Grafiker Rainer Groothuis beteiligt. Implizit ist mit dieser äußeren Form dem Leser bereits die Antwort auf die Frage gegeben, wieviel Sprache wir denn brauchen: jedenfalls nicht zu wenig.

Um die Intention Frühwalds besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf weitere Publikationen des Verlages: Erst letztes Jahr erschien der von Frühwald herausgegebene Band „Blaupause des Menschen. Streitgespräche über die beschleunigte Evolution“ als Beitrag zur Diskussion um die Gentechnik, 2007 „Wie viel Wissen brauchen wir?“, worin sich Frühwald mit dem aktuellen Topos der Wissens- und Informationsgesellschaft auseinandersetzte – als Präsident der sonst eher von Naturwissenschaftlern dominierten DFG hatte er Einblick in unterschiedlichste Forschungsgebiete. Gemeinsam ist den Bänden ein Verständnis von Wissenschaft, das sich als Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs sieht, auch in der Absicht, Natur- und Geisteswissenschaften füreinander fruchtbar zu machen – wobei die Herkunft aus der Germanistik mit den Schwerpunkten Romantik und Klassik nicht verleugnet wird.

Mit „Wie viel Sprache brauchen wir?“ dient wiederum eine Frage als thematische Klammer der in Länge, Publikationsanlaß und Entstehungsdatum (Mitte der 1970er-Jahre bis in die Gegenwart) recht unterschiedlichen Aufsätze.

Ein kritischer Impuls kennzeichnet auch den vorliegenden Band – wobei sich Zeit- und Kulturkritik vermischen. So stellt Frühwald einleitend einen „Rückzug der Sprache aus der Existenzdeutung des Menschen“ fest, „[…] die Tendenz zur Einsprachigkeit statt zu Übersetzung und Mehrsprachigkeit“ – womit vor allem auf den Wissenschaftsbetrieb abgezielt wird. Es geht Frühwald jedoch nicht um Verfalls- und Verlustgeschichten, sondern er plädiert „für eine Sprachkultur, die sich immer wieder aus der Sprache der Poeten und der Philosophen und aus der Solidarität des Menschen mit seinesgleichen erneuert“. Im Hintergrund steht die Utopie einer humanisierenden Sprach- und Bildungskultur, einer „Menschwerdung durch Sprache“, wie das Einführungskapitel programmatisch überschrieben ist.

Gefaßt sind die einzelnen Beiträge unter Großthemen: „Sprachkritik, Satire und Polemik“, „Redner, Erzähler, Leser“ und „Literatursprache“.

Der Germanist Frühwald kehrt damit zu seinem engeren Wissenschaftsbereich zurück, der Blick in die Naturwissenschaften sorgt aber immer wieder für interessante Kontrastierungen, wenn beispielsweise die Erfahrungen von Astronauten denen von Matthias Claudius’ „Sternseherin Lise“ gegenübergestellt werden. Neben der Überkreuzung der Wissenssparten ist es die von Vergangenheit und Gegenwart, was die Lektüre vergnüglich macht und weite Reflexionshorizonte öffnet.

Wo der Bereich der Sprachkritik und deren moralischer Impetus berührt wird, kann Karl Kraus kaum fehlen, und ihm ist folglich auch der umfangreichste Aufsatz des Bandes gewidmet. Dass Sprachkritik konkrete Herrschaftskritik beinhalteten kann, zeigt Frühwald nicht nur an Kraus’ „Dritter Walpurgisnacht“, sondern auch an den Satiren Heinrich Heines auf die Gedichte Ludwig I. oder an der Polemik Joseph Roths gegen die „Unrechtschreibung“ Wilhelm II., in der er dessen Orthografie als Psychogramm liest und damit, ähnlich wie Karl Kraus, das scheinbar Nebensächliche in den Mittelpunkt rückt. In diese Tradition von Schriftstellern stellt Frühwald in einer Wende zum Aktuellen überraschend die Kritik etwa eines Reiner Kunze an der jüngsten Rechtschreibreform: „Als eine scharfe Waffe gegen mechanisch und bürokratisch verfahrende Obrigkeiten hat die Sprachkritik noch lange nicht ausgedient.“

Der Zusammenhang von Sprache und Herrschaft steht auch im Hintergrund, wenn die Genese des Deutschen als Wissenschaftssprache und ihr Bedeutungsverlust gegenüber dem Englischen beschrieben wird. Am Beispiel Jacob Grimms wird die enge Verbindung von (Kultur-)Politik und Sprache deutlich, ebenso in der Demontage von Wissenschaft und Sprache durch das NS-Regime. Neben dem damaligen braindrain und der generellen Diskreditierung des Deutschen als „Sprache des Schreckens“ begründet Frühwald den Bedeutungsverlust mit der „experimentalistische Wende“ Mitte der 1950er-Jahre in den Naturwissenschaften und der Dominanz der USA auf dem Feld der Molekularwissenschaften und resümiert abwägend: „Die Gefahren des Reduktionismus, die von der anglophonen Monokultur in der Wissenschaft ausgehen, liegen dabei ebenso auf der Hand wie die Vorzüge der leichten Kommunikation.“ Eine Chance für eine Rehabilitierung sprachlicher Vielfalt sieht Frühwald im Überschneidungsbereich von Linguistik und Evolutionsbiologie, sowohl was Sprache als Objekt als auch als Instrument angeht.

Die weiteren Aufsätze beleuchten historische und politische Aspekte der „Sprachwerdung“ im 18. und frühen 19. Jahrhundert, etwa am Beispiel Johann Christoph Gottscheds, Johann Gottfried Herders, Alexander von Humboldts. Zwei längere Texte zu Schiller und der emanzipatorischen Funktion von Sprache bei Joseph von Eichendorff schließen den Band ab – als Aufweis der in Sprache liegenden Möglichkeiten.

Titelbild

Wolfgang Frühwald: Wieviel Sprache brauchen wir?
Berlin University Press, Berlin 2010.
238 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783940432827

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