Eine politische und biblisch-mythische Liebesgeschichte

John Berger erzählt von „A und X“

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„In den dunklen Falten der Zeit gibt es vielleicht nichts als das stumme Tasten unserer Finger. Und unserer Taten.“ Und so schreibt A’ida tastend an ihren Geliebten Xavier, der im Gefängnis sitzt, Zelle 73. Wegen „Terrorismus“. Von einer Macht eingesperrt, die das Land besetzt hat und mit Apache-Helikoptern und MPs einzuschüchtern versucht. Und ihre Taten? Von denen erzählt sie in kleinen Geschichten aus ihrem Alltag: vom einsamen Aufwachen, von ihrer Arbeit in der Apotheke, vom Rosenbusch vor ihrer Tür, einer Katze oder einem zerbrochenen Stuhl, den sie wieder zusammengeleimt hat. Von ganz normalen Begegnungen, einem blinden Süßigkeitenverkäufer oder einer alten Apothekerin, die nur ausgewählte Kunden bedient. Es sind poetische und zärtliche Liebesbriefe, die man später in der Zelle findet, als das alte Gefängnis abgerissen wird, mit wenigen Bleistiftnotizen von Xavier versehen.

Der englische Schriftsteller John Berger, der seit vielen Jahren in den französischen Bergen lebt, hat sich schon immer politisch engagiert, gegen die Globalisierung und brutale Arroganz der Mächtigen geschrieben und dabei den Ungehorsam und die Auflehnung der „kleinen Leute“, die sich manchmal auch in kleinen, privaten Gesten zeigt, gelobt. In seinem neuen Roman „A und X“, der eine Hymne an ein Leben gegen Unterdrückung und Willkür ist, gibt er sich als Herausgeber von A’idas Briefen aus. Sachte und langsam enthüllt der Text seine Vielschichtigkeit, offenbart seine Dimensionen: am deutlichsten sind die politischen und eine mythisch-biblische: Denn in A’idas Briefen wird ständig auf die Bibel angespielt, manchmal kaum merklich. Sie erzählt vom Rosenbusch, dem Mariensymbol schlechthin, und dem „X“, dem griechischen Symbol für Christus, über den Berg Abor (wie der biblische Berg Tabor), den „Tora-Pass“ oder den Ort Sennacherib (auch ein biblischer Name) bis zu Xaviers Wundmalen an den Händen, die ihn zu einer Christusfigur, einem Erlöser machen.

Die politische Dimension ist dagegen sehr direkt. Zwar kann A’ida wegen der Zensur nicht detailliert vom Widerstand berichten, aber es gibt Andeutungen, die sich wie ein Code anhören. Direkt ist sie nur in den Briefen, die sie nicht abschickt. Dort erzählt sie von den Frauen, die sich auf dem Dach einer alten Tabakfabrik versammeln, „wo sich sieben von uns verstecken“, und einen Ring um das Gebäude bilden, gegen die Hubschrauber und Panzer. Von Sokos untergetauchtem Neffen oder dem angeschossenen Raf, den sie nachts heimlich verarztet. Noch deutlicher sind Xaviers Bleistiftnotizen. Es fallen die Namen von Frantz Fanon, Cam Yüzel, Marcos oder Ghassan Kanafani: Freiheitskämpfer und -theoretiker wie er. Und Xavier nennt Fakten der Globalisierung: „1 Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu Trinkwasser. In manchen Gebieten Brasiliens bezahlt man auf der Straße mehr für 1 l Trinkwasser als für 1 l Milch, in Venezuela mehr als für 1 l Benzin. Gleichzeitig plant man zwei Zellstofffabriken, Papiermühlen, die Botnia und Emce gehören und täglich 86 Millionen l Wasser verbrauchen, das man dem Uruguay River entnimmt.“ Die Namen, die im Roman auftauchen, auch die Kosenamen, mit denen A’ida ihren Liebsten anredet, sind spanisch, arabisch oder türkisch und verweisen auf einen Widerstand und auf das Land, in dem die Geschichte spielt: ein Nirgendwo, ein modernes Utopia.

All dies wird hauchzart von einer sanften Liebesgeschichte eingehüllt, in der A’ida lyrische Worte für ihre Liebe und ihre Sehnsucht findet. Wo sie von ihrer ersten Begegnung und einem Flug mit ihm in einem winzigen Flugzeug erzählt. Wo sie fantasiert, mit ihm zusammen eine Süßigkeit zu verspeisen. Und es ist, „als ob wir eine Mandeldecke über unsere Köpfe ziehen, um dem Sand, dem Regen, dem Wind oder dem Suchscheinwerfer des Wachturms zu entgehen.“

Bergers Sprache verknüpft die vielen Ebenen zu einem dichten Teppich von Gefühlen und Reflexionen. Und seine typische, etwas aufmüpfige Melancholie, seine Konzentration auf poetische, sich öffnende und doch immer ein wenig geheimnisvolle Sätze machen daraus ein Leseerlebnis der besonderen Art.

Titelbild

John Berger: A und X. Eine Liebesgeschichte in Briefen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Hans J. Balmes.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
205 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783446233959

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