Lehren aus der Konjunktur

Beobachtungen zur aktuellen Lehrbuchkultur in der germanistischen Literaturwissenschaft

Von Claudius SittigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudius Sittig und Jan StandkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Standke

Wenn man durch die Herbstkataloge der deutschen Wissenschaftsverlage blättert, findet man für die Geisteswissenschaften einen Trend bestätigt, der sich bereits seit längerem abzeichnet: Neben den üblichen monographischen Studien und Sammelbänden steht eine ständig wachsende Zahl von akademischen ‚Lehrbüchern’, ‚Einführungen’, ‚Grundrissen’, ‚Orientierungskursen’ oder ‚Studienbüchern’. Die Konjunktur ist auffällig, und es lohnt sich, am Beispiel der neueren deutschen Literaturwissenschaft über ihre Gründe und Konsequenzen nachzudenken. Gleichzeitig rückt dabei eine Gruppe von Bildungsmedien in den Blick, die exemplarisch einen Einblick in die fachspezifische Wissenschaftskultur der Literaturwissenschaft ermöglicht. Um die Orientierung zu erleichtern, sollen zunächst die Bücher im Mittelpunkt stehen, die sich unmittelbar auf die Studienrealität beziehen, anschließend bietet sich eine Ausweitung der Perspektive auf die Wissenspräsentation in Einführungsbüchern an.

Nahezu monatlich wird das Sortiment der lieferbaren Bildungsmedien durch neue Bücher ergänzt. Unabhängig davon bleiben auch altbewährte Klassiker in immer neuen Auflagen weiterhin präsent: Eckhardt Meyer-Krentlers „Arbeitstechniken Literaturwissenschaftsind (inzwischen von Burkhard Moennighoff verantwortet) bereits in der 14. Auflage erschienen, die „Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft“ von Dieter Gutzen, Norbert Oellers und Jürgen H. Petersen liegt, neu bearbeitet durch Petersen und Martina Wagner-Egelhaaf, nun in der 8. Auflage vor. Daneben haben traditionelle Studienbuch-Verlage wie UTB ihr Angebot aber auch weiter ausgebaut und zusätzlich neue Reihen konzipiert, die unter Titeln wie „UTB Basic“,„UTB Profile“, „bachelor bibliothek“ oder „Standardwissen Lehramt“ firmieren (alle UTB). Auch Verlage, deren Angebot bisher vorrangig auf ein wissenschaftliches Fachpublikum ausgerichtet war, haben nun eigene Studienbuch-Reihen im Programm. So hat etwa der Berliner Akademie-Verlag seit dem Jahr 2008 in schneller Folge neun Bände in seiner Reihe „Studienbuch Literaturwissenschaft“ publiziert, weitere sieben sind bereits angekündigt. Und noch aus einer ganz anderen Richtung kommen neue Lehrbücher auf den Markt: Der Stuttgarter Klett-Verlag, der bisher vorrangig auf Schulbücher spezialisiert war, hat seit 2008 ebenfalls neun Bände in einer neu lancierten Reihe „uni-wissen Germanistik“ vorgelegt und damit (nach entsprechenden Vorläufern für die benachbarten Philologien) die Ausweitung seines Adressatenkreises auf Studierende fortgesetzt.

Dass die Bücher Abnehmer finden, zeigt ein Blick in die Lehrbuchsammlungen der Universitätsbibliotheken, deren Bestände sich in den letzten Jahren zusehends mit den neu erschienenen Bänden gefüllt haben, angeschafft nicht zuletzt mit finanziellen Mitteln aus den vielerorts eingeführten Studiengebühren, die vorrangig zur Verbesserung der universitären Lehre eingesetzt werden sollen. Die Lehrbücher sind außerdem über den relativ geschlossenen Raum der wissenschaftlichen Kommunikation hinaus präsent. Sie stehen nicht nur in den Lesesälen und Magazinen der Bibliotheken oder zirkulieren im Leihverkehr, sondern sie gehören – im Unterschied zur großen Menge der fachwissenschaftlichen Publikationen – tatsächlich zum festen Sortiment der Buchhandlungen. Und sie finden hier auch Abnehmer. Es gibt kaum ein neueres Lehrbuch der germanistischen Literaturwissenschaft, das nicht binnen kurzer Frist mindestens in der 2. Auflage vorliegt. Die Konjunktur von Lehrbüchern ist also nicht zu übersehen.

Den ‚Lehrbüchern’, ‚Einführungen’ und anderen Bildungsmedien wird unterdessen auch in den kulturellen Öffentlichkeiten größere Aufmerksamkeit zuteil: Auf der Online-Plattform Amazon kommentieren und bewerten Studierende extensiv die Brauchbarkeit der offenbar tatsächlich benutzten Bücher, in den Feuilletons der überregionalen Presse werden Lehrbücher vorgestellt, und auch in einer Reihe von Rezensionsorganen des Fachs sind wiederholt Besprechungen von Lehrbüchern veröffentlicht worden. Dazu gehört nicht zuletzt das Forum Literaturkritik.de, dessen Redaktion bereits vor drei Jahren auf den Trend reagiert und einige Beiträge zu einem ersten Schwerpunkt über „Lehrbücher, Nachschlagewerke, Überblicke“ gruppiert hat (1/2007). Für die aktuelle Ausgabe hat die Redaktion noch einmal die in den letzten Jahren erschienenen Lehrbücher gesichtet und zu einer umfassenden Liste zusammengestellt: Schon die schiere Menge der neu erscheinenden Bücher, aber auch ihre Auflagenstärke und Absatzzahlen unterscheiden den Publikationstypus quantitativ von anderen Textsorten der Literaturwissenschaft. Und mindestens in dieser Hinsicht ist die aktuelle Konjunktur der Lehrbuchproduktion kommentarbedürftig. Zugleich rücken die Lehrbücher aber auch Fragen der fachspezifischen akademischen Lehr- und Lernkultur in den Fokus und machen deutlich, dass erhöhter Diskussionsbedarf auch über die qualitativen Dimensionen von Bildungsmedien in der Literaturwissenschaft besteht.

Ursachen für die Konjunktur

Die offensichtlichste Ursache für die aktuelle Konjunktur ist sicherlich in der jüngsten Reform der universitären Studienorganisation zu sehen. Die Umstellung der traditionellen Studienmodelle auf die modularisierten Bachelor- und Master-Studiengänge hat unterschiedliche Konsequenzen. Für die Konjunktur der Lehrbücher sind – vereinfacht gesagt – vor allem drei Aspekte von Bedeutung: Zum einen führt die Modularisierung des Studiums notwendig zu einer stärkeren Segmentierung und Standardisierung der Inhalte und gleichzeitig zur Notwendigkeit, Lernprozesse deutlicher zu steuern als zuvor. Zum anderen wird das ältere Modell der weitgehend selbständigen, freien und ‚unkontrollierten’ Akkumulation eines Wissens, das sich früher umfassend erst in Abschlussprüfungen bewähren musste, abgelöst durch ein neues System der regelmäßigen, studienbegleitenden Leistungsevaluation, deren Ergebnisse sich am Ende zur Abschlussnote summieren. Und schließlich geben die neuen Studienordnungen nicht nur eine Orientierung auf fachspezifische, sondern auch auf allgemeine Kompetenzen vor, die auf potenzielle Berufsfelder ausgerichtet sind. Sie müssen im Seminar entwickelt, eingeübt und überprüft werden. – Aus all dem ergibt sich für die akademische Lehre im Allgemeinen, dass die Gestaltung von Lehrveranstaltungen auf die Entwicklung und Vermittlung eines Wissens abzielen muss, das im Idealfall klar strukturiert, begrenzt und reproduzierbar ist. Zum anderen folgt daraus, dass dieses Wissen verbindlich abgesichert sein muss, so dass es in einer dichten Folge von Leistungsevaluationen gezielt überprüft werden kann. Und schließlich müssen Komplexität und Anspruch des Wissens auf die Kompetenzen abgestimmt sein, die in den Veranstaltungen vermittelt werden sollen.

Es spricht vieles dafür, dass Bildungsmedien und insbesondere die große und disparate Gruppe der ‚Lehrbücher’, um die es im Folgenden vorrangig gehen soll, in dieser neuen akademischen Lehr- und Lernkultur eine zentrale Rolle spielen. Tatsächlich haben viele Verlage explizit auf die neuen Anforderungen des Studienalltags an deutschen Hochschulen reagiert: Häufiger erscheinen Lehrbücher in Reihen, die explizit an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der neuen Studiengänge adressiert sind (z.B. „bachelor-wissen“ im Narr-Verlag, „bachelor bibliothek“ in der Reihe UTB). Es gibt eine Vielzahl von Publikationen, die grundlegende Orientierung versprechen oder spezielle Themen des Studiums vorstellen und dabei versuchen, die neuen Anforderungen an die akademische Lehre konzeptuell zu integrieren. Sie bilden die Studienstruktur auf verschiedenen Ebenen ab: Inhaltlich sind sie oft nach ‚Modulen’ organisiert bzw. in Einzelkapitel gegliedert, deren Zahl den Seminarsitzungen eines Semesters entspricht. Das gilt etwa für die Studienbücher des Akademie Verlags, die konsequent in 14 Kapitel gegliedert sind. So soll das Wissen über umfassende Themen wie die Literatur des 18. Jahrhunderts so portioniert werden, dass jede Einheit zur brauchbaren Grundlage für eine Seminarsitzung werden bzw. zur Vorbereitung der studienbegleitenden Prüfungen dienen kann. Kapitelzusammenfassungen, Definitionen und Merksätze, Marginalien und Glossare erlauben die schnelle Orientierung und erleichtern die gezielte Lektüre. Fragen am Ende der einzelnen Kapitel zielen ebenso auf eine Kontrolle von Textverständnis und Lernerfolg wie Testklausuren im Buch oder auf den entsprechenden Verlagsseiten im Internet. Kurze Beispielanalysen machen die angesprochenen Problemkomplexe anschaulich. Weiterführende Anregungen ermöglichen schließlich die Entwicklung und Einübung von Kernkompetenzen an exemplarischen Fragestellungen. Diese Didaktisierung wird regelmäßig unterstützt durch die visuelle Gestaltung und Strukturierung des Texts mit Hilfe von herausgehobenen Kästen, Schemata, Grafiken und Tabellen, die eine schnellere Aufnahme und Memorierbarkeit des Wissens gewährleisten sollen. Viele Lehrbücher reagieren mit ihrer Konzeption aber auch auf die zeitlichen Verläufe und Anforderungen, die das Studium gegenwärtig auszeichnen. Hinter dem System der Creditpoints, die von den Studierenden zu erwerben sind, verbergen sich Vorstellungen von einem klar strukturierten Arbeitskontingent, dem die Lehrbücher Rechnung tragen. Knappe Kapitel, Zusammenfassung oder im Umfang begrenzte Arbeitsaufträge rechnen mit den begrenzten Arbeitskapazitäten, die den Studierenden zur Vor- und Nachbereitung der Lehrveranstaltung zur Verfügung stehen.

Die hier skizzierte ‚Didaktisierung’ der Lehrbücher ist nicht vollkommen neu: Auch in früheren Lehrbüchern der Literaturwissenschaft, etwa in den ersten Auflagen der oben genannten „Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft“ (Gutzen, Oellers, Peters), im „Arbeitsbuch Literaturwissenschaft“ von Thomas Eicher und Volker Wiemann oder in Jochen Vogts „Einladung zur Literaturwissenschaft“, gehören entsprechende Arbeitsaufträge ebenso zum Programm wie visuelle Gestaltungsmittel, die zur Unterstützung der Darstellung eingesetzt werden. – Neu ist dagegen, dass die genannten Aspekte und Techniken der Wissensvermittlung inzwischen fast flächendeckend zum Tragen kommen und dass ihnen größere Bedeutung beigemessen wird als zuvor. Gegenüber der traditionellen textbasierten Vermittlung von Einführungswissen wird zunehmend Wert auf die Strukturierung des Wissens, die Aktivierung der Rezipienten und die Möglichkeiten zur (Selbst-)Kontrolle des Lernerfolgs gelegt. Alle diese Teilaspekte summieren sich zu dem Befund, dass man von einer zunehmenden ‚Didaktisierung’ der Lehr- und Bildungsmedien der Literaturwissenschaft sprechen kann.

Die Reserve der Fachwissenschaft

Man könnte die aktuelle Konjunktur der literaturwissenschaftlichen Lehrbücher als Reaktion auf die Reformen und als Bereitschaft zur Umsetzung der entsprechenden Vorgaben deuten. Gegen diese Einschätzung spricht allerdings, dass sowohl die verschiedenen Bildungsreformen der Vergangenheit als auch das ‚Bildungsmedium’ Lehrbuch in der Wissenschaftskultur der Germanistik traditionell eher skeptisch aufgenommen worden sind: „Einführungen und Grundrisse sind Lutschproppen für Säuglinge“, hat der Berliner Literaturwissenschaftler Gustav Roethe in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts besonders drastisch formuliert. Und das allgemeine Lamento über die Bildungsreformen und die im gleichen Zuge neu entstehende Lehrbuchkultur dokumentiert eine „Einübung in die Literaturwissenschaft“ aus der Feder von Harald Fricke und Rüdiger Zymner auf ihre Weise ironisch. Nach dem didaktischen Grundsatz der praktischen Aneignung von Wissen durch parodistische Verfahren werden die Studierenden in einer Aufgabe dazu auffordert, den Inhalt des Satzes „Germanistische Lehrbücher sind der Beweis dafür, daß die Bildungsreform der 70er Jahre gescheitert ist“ auf zehn verschiedene Weisen metaphorisch auszudrücken.

Die Indizien für eine grundlegende Ambivalenz und Reserve der Fachöffentlichkeit könnte man leicht vermehren. Und man müsste anschließend konstatieren, dass das Bildungsmedium ‚Lehrbuch‘, jenseits von vereinzelten polemischen Invektiven, in der Fachöffentlichkeit der Literaturwissenschaft bislang nur selten in den Fokus der Selbstreflexion gerückt wurde. Diese Zurückhaltung gilt allgemein auch für andere Darstellungsformen der Literaturwissenschaft. Erst seit kurzem lassen sich vermehrt Bemühungen verzeichnen, die Medien des Fachs (auch im Vergleich zu anderen Wissenschaftskulturen) zu reflektieren. Das dreibändige „Handbuch Literaturwissenschaft etwa (Hg. v. Thomas Anz. Stuttgart 2007), das man als umfassende Kodifikation der aktuellen Selbstbeschreibungen einer Disziplin lesen kann, hat den Darstellungsformen und Publikationskulturen eigene Beiträge gewidmet. Behandelt werden etwa ‚Monographie’, ‚Sammelband’ oder ‚Artikel’. ‚Lehrbücher’ bleiben in diesem Zusammenhang allerdings noch unerwähnt (ebenso wie das ‚Handbuch’ selbst). Jörg Schönert hat allerdings darauf hingewiesen, dass der Publikationstypus fest mit der neueren Fachgeschichte verbunden ist und dass seine Konjunkturen vor allem in Phase der Reform bzw. Legitimationskrise wiederholt zu beobachten sind („Einführung in die Literaturwissenschaft“. Zur Geschichte eines Publikationstypus der letzten 50 Jahre, https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10335). Allein schon dieser Hinweis mag verdeutlichen, dass gerade das Lehrbuch ein wichtiger Indikator zur Beschreibung von Entwicklungen und Umbrüchen in der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik sein und neue Perspektiven für die Selbstbeobachtung des Fachs eröffnen könnte.

Eine mögliche Ursache für die reflexive Zurückhaltung könnte in den methodischen Problemen liegen, die mit der Beobachtung der literaturwissenschaftlichen Lehrkultur verbunden sind. Wichtige Impulse zur Entwicklung eines entsprechenden Instrumentariums liefern neue Ansätze der Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsgeschichte, die in der Literaturwissenschaft in ersten Entwürfen zu einer Praxeologie oder Ethnographie des Fachs kürzlich aufgenommen worden sind (vgl. Steffen Martus u. Carlos Spoerhase: Praxeologie der Literaturwissenschaft. In: Geschichte der Germanistik 35/36, 2009, S. 89–96; Marie Antoinette Glaser: Literaturwissenschaft als Wissenschaftskultur. Zu den Praktiken, Mechanismen und Prinzipien einer Disziplin. Hamburg 2005). In dieser neuen Perspektive auf die Wissenschaftskultur der Germanistik wird die geschilderte Diskrepanz zwischen der skizzierten Präsenz der Lehrbücher und ihrer deutlichen Ausrichtung auf die aktuelle Lehr- und Lernkultur in der Literaturwissenschaft einerseits und der reflexiven Reserve in der Fachöffentlichkeit andererseits selbst aufschlussreich. Man könnte die Diskrepanz noch pointierter formulieren: Die Fachvertreterinnen und Fachvertreter schreiben zwar Lehrbücher, aber in den Selbstreflexionen der Germanistik lassen sich nur wenige Aussagen über Ort und Funktion der Bildungsmedien im akademischen Alltag finden.

Zum Verhältnis von Lehrbuch und literaturwissenschaftlicher Lehre

Man kann diese Zurückhaltung als Hinweis auf ein Verständnis von akademischer Lehre verstehen, das den Einsatz von Lehrbüchern nicht einkalkuliert. Begründet wird die Entscheidung gegen das ‚Lehrbuchwissen‘ häufig mit dem Verweis auf ein Lehrkonzept, das mit den Vorgaben und medialen Möglichkeiten der Lehrbücher nur schwer in Einklang zu bringen ist. Besonders deutlich tritt der zugrunde liegende Konflikt hervor, wenn man die Selbstbeschreibungen des Fachs in den Blick nimmt, die auf die Gestaltung von interpretationsbezogenen Lernprozessen Bezug nehmen: Sie rücken regelmäßig die Veranstaltungsform des Seminars in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und betonen die Bedeutung des hermeneutischen Gesprächs als Mittel zur dialogischen Herstellung und kritischen Bewertung von Wissen über Literatur. Die Praxis des Gesprächs korrespondiert dabei mit einem bestimmten Verständnis von der ästhetischen Qualität von Literatur: An Stelle eines gesicherten Wissens über den Gegenstand soll das Ergebnis des Lernprozesses im Idealfall die Einsicht in die prinzipielle Unabschließbarkeit der Deutung und die Vielzahl der möglichen Lesarten sein.

Dieser komplexe Vorgang lässt sich in Lehrbüchern allerdings kaum abbilden und noch weniger initiieren: Es ist nicht möglich, die situative Spannung, die aus der Konfrontation von heterogenen Deutungsperspektiven und gemeinsamen Prozessen des Verstehens im Gespräch entsteht, durch Textstrategien zu simulieren. Bildungsmedien können die Materialgrundlagen liefern, theoretisches Wissen mitteilen und methodische Instrumentarien darstellen. Die traditionellen Lehrbücher müssen jedoch genau an dem Punkt abbrechen, wo der hermeneutische Prozess in Gang kommt. Der Vorstellung von einem vielstimmigen Gespräch tragen am ehesten noch neuere Publikationen Rechnung, die um einen Text zentriert sind und dazu exemplarische Analysen versammeln, die die Pluralität der Zugangsweisen dokumentieren (David Wellbery: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erdbeben von Chili“. 5. Auflage, München 2008; Klaus Michael Bogdal: Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas „Vor dem Gesetz“. 2. Auflage, Göttingen 2005; Oliver Jahraus: Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen. Stuttgart 2002). Sie führen Optionen für die Textarbeit vor, die Modellcharakter haben sollen. Aber auch sie können keine streng reproduzierbare Abfolge von Analyseschritten vorschlagen, die sicher zu gültigen Ergebnissen führt, und auch in diesen Fällen fehlt regelmäßig eine didaktische Vermittlung des dialogischen Moments, das erst durch die Interaktion im Seminar erfahrbar wird.

Die angedeutet Entgegensetzung von ‚Lehrbuchwissen’ und erlebtem hermeneutischem Seminargespräch wird der komplexen Lehr- und Lernrealität an deutschen Universitäten natürlich nicht in vollem Umfang gerecht. Die Bedingungen, unter denen der akademische Unterricht mittlerweile stattfindet, machen die Aussicht auf Momente der dialogischen Erkenntnis unwahrscheinlich, hohe Teilnehmerzahlen in den Seminaren erschweren das konzentrierte Gespräch. Kaum ein Lehrender kann deshalb darauf verzichten, immer größere Anteile der Veranstaltungen mit der Vermittlung von Lehrbuchwissen auszufüllen, nicht zuletzt auch, um so die obligatorische Leistungsevaluation abzusichern. Die normative Unterscheidung zwischen einem defizitären Lehrbuchwissen und dem Ideal eines hermeneutischen Gesprächs wird durch die reale Seminarpraxis problematisch.

Die Konfrontation der beiden Wissensformen lenkt die Aufmerksamkeit schließlich auf die Frage nach den grundsätzlichen Bedingungen und Möglichkeiten der Lehrbarkeit literaturwissenschaftlichen Wissens. (vgl. Holger Dainat: Hochschullehre, in: Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 3, S. 199-209) Die allgemeine Aufwertung der Hochschuldidaktik (vgl. Susanne Hochreiter u. Ursula Klingenböck, Hg.: Literatur Lehren Lernen. Hochschuldidaktik und germanistische Literaturwissenschaft, Wien 2006; Ulrike Eberhardt, Hg.: Neue Impulse in der Hochschuldidaktik. Sprach- und Literaturwissenschaften, Wiesbaden 2010), die man seit einigen Jahren beobachten kann und deren Einfluss mittlerweile bis in die Entscheidungsfindung der Berufungskommissionen reicht, verleiht dem Thema zusätzlich institutionelles Gewicht. Dazu passt die Beobachtung, dass viele Bücher auch von Nachwuchswissenschaftlern verfasst werden. Sie nehmen sich die Zeit, Bücher zu schreiben, die im Qualifikationskatalog der Literaturwissenschaft noch nicht vorgesehen sind. Dass sie es dennoch in so großer Zahl tun, deutet auf einen möglichen Wandel in der fachinternen Bewertung hin.

Die Konjunktur der Lehrbücher lässt sich also auch von dieser Seite mit einer Konjunktur der Reflexion über die akademische Lehre in Beziehung setzen: Es herrscht zunehmend Einverständnis darüber, dass die Initiierung und Leitung des Seminargesprächs selbst didaktischer Professionalisierung bedarf. Diese Qualifikationen sind in der ‚Lehrbefähigung‘ zwar semantisch aufgehoben. Der Weg zur Hochschullehrerin bzw. zum Hochschullehrer führt jedoch noch immer hauptsächlich über das Suchen und Erproben von individuellen Lösungen für die Probleme des alltäglichen akademischen Unterrichts. Von ihrer Anlage her können die neueren Lehrbücher in dieser Situation darum durchaus entlastend wirken, indem sie Strukturierungsmöglichkeiten anbieten, um komplexe Themen für die Lehre handhabbar zu machen, Möglichkeiten der Materialerschließung vorgeben und Kontexte eröffnen. Damit erfüllen sie in etwa die Funktion der Lehrerhandreichungen und Arbeitsbücher, die im schulischen Deutschunterricht eingesetzt werden. Berücksichtigt man die Vielfalt der Methoden, Sozial- und Arbeitsformen, die für die Gestaltung von Lehre empfohlen werden, so tritt die Nähe zu Formen schulischen Lehrens und Lernens noch deutlicher hervor (vgl. z.B. Wolfgang Hallet: Didaktische Kompetenzen. Lehr- und Lernprozesse erfolgreich gestalten. Stuttgart 2006).

Der Lehrhabitus der Einführungen

Man kann nach den hier skizzierten Beobachtungen zu den Lehrbüchern der Literaturwissenschaft nicht sicher behaupten, dass ihr Status im Prozess der akademischen Lehre – unabhängig von allen Tendenzen zur Didaktisierung – gegenwärtig bereits klar zu benennen wäre. Man könnte aber auch grundsätzlich neu und anders ansetzen und Lehrbücher, die sich explizit an Studienanfänger richten, auch als Medien der Initiation und Akkulturation in die spezifische kulturelle Praxis der Literaturwissenschaft verstehen. In dieser erklärten Absicht modellieren sie z.B. das Verhältnis zwischen einer leidenschaftlichen Parteinahme für den Gegenstand und einer distanzierten Beobachtungshaltung als wissenschaftlichem Erkenntnismodus. Sie legen den Studienanfängerinnen und -anfängern häufig eine Haltung der Unvoreingenommenheit nahe, die auf eigenständige Lektüre der literarischen Texte gründet und die Notwendigkeit der Lektüre von Forschungsliteratur zunächst zurückstellt. Mit diesem Entwurf soll den Studierenden – im Interesse eines Ideals des ‚forschenden Lernens’ – eine Haltung der Neugier und der selbsttätigen Erkenntnis mitgeteilt werden, die oft aber auch als Betonung von Originalität verstanden wird und damit Arbeitsschritte unplausibel zu machen scheint, die für die Praxis der Wissenschaft konstitutiv sind.

Man könnte mit Blick auf solche Positionszuschreibungen davon sprechen, dass sich in den Texten ein eigener ‚Lehrhabitus’ artikuliert, der sich exemplarisch auch an der Praxis beobachten lässt, ein Zitat aus literarischen oder wissenschaftlichen Texten in der Funktion eines Mottos dem darstellenden Text voranzustellen. Nicht nur die Auswahl des Zitats ist dabei signifikant, sondern schon die Entscheidung, ein solches Zitat dem Text voranzustellen: Man könnte etwa formulieren, dass ein Autor oder eine Autorin damit eine wissenschaftliche ‚Persona’ entwirft, die das Verständnis ihrer Profession als Berufung dadurch dokumentiert, dass sie Literatur einen eigenen programmatischen Aussage- und Erkenntniswert zuschreibt. Aufschlussreich ist darüber hinaus auch der Blick auf die Herkunft solcher Zitate aus verschiedenen Quellen, die man verschiedenen Registern zuordnen kann: Neben Formulierungen aus avancierten literaturtheoretischen Schriften etwa von Bachtin reicht das Spektrum der verwendeten literarischen Zitate von originalsprachigen Passagen (etwa von Stéphane Mallarmé) über klassische Autoren (Goethe, Novalis etc.) bis hin zu launigen Reimsprüchen (etwa von Erich Kästner), Zeichnungen von Loriot oder Comic-Sequenzen aus Bill Watterson „Calvin und Hobbes“. Auf diese Weise wird dem Leser die Gültigkeit der mitgeteilten ‚Lehre’ versichert. Die Zitate vermitteln ein implizites Einverständnis zwischen Autor und Leser durch den gemeinsam geteilten Glauben an den Bildungswert kanonischer Texte oder durch eine gemeinsame Form von Humor, wenn der Bildungsanspruch paradigmatisch unterlaufen wird.

Was ‚wissen‘ Einführungen eigentlich?

Um schließlich noch einen letzten Aspekt herauszuheben: Nicht alle Bildungsmedien der Literaturwissenschaft beziehen sich direkt auf den akademischen Unterricht. Neben ‚Lehrbüchern‘, die sich in Konzept, Struktur und Gestaltung an den Gegebenheiten der Studienrealität orientieren, muss man die Perspektive auch auf die Vielzahl benachbarter Publikationstypen ausweiten, die deutliche Schlüsse darauf zulassen, wie sich der Status des disziplinären Wissens im Fach verändert: In den Blick kommen die unzähligen knappen Bücher, die bereits durch die Etikettierung als ‚Einführung’ im Titel eine Distanz zu den traditionellen Darstellungsformen des Fachs markieren. Schon der schmale Umfang lässt darauf schließen, dass hier keine umfassende Präsentation des Themas zu erwarten ist, es geht um Themen und Denker „im Profil“ (UTB), um das Markante und Wesentliche (z.B. C.H. Beck Wissen), nicht um die Totalität. ‚Einführungen’ zeichnen sich dabei nicht nur durch Knappheit aus, sondern sie eröffnen die Wahl zwischen spezifischen Modi der Wissenspräsentation: Auf der einen Seite können sie sich als Dokumente der fachwissenschaftlichen Orthodoxie geben, die zuverlässig über das aktuelle kanonische Wissen der Disziplin informieren müssen (und insofern jeweils auch als Versuch eines ‚Kassensturzes’ zu verstehen wären). Auf der anderen Seite bietet der Gestus der ‚Einführung’ auch die Möglichkeit, programmatische Entwürfe zu formulieren und vorläufiges Wissen mitzuteilen. Die Etikettierung dokumentiert zugleich einen Versuch der Kanonisierung neuer Wissensbestände. Einführungen sind dann als Behauptungen zu verstehen, dass der jeweilige Gegenstand ein Eigengewicht hat. Der Status des Wissens, das in solchen ‚Einführungen’ vorgestellt wird, liegt darum häufig auf einer mittleren Ebene der vorläufigen Verbindlichkeit. Auch bei kanonischen Themen der Literaturgeschichte etwa ergibt sich eine graduelle Verbindlichkeit vorrangig durch die Kriterien der Selektivität und Exemplarität. Die Mehrfachadressierung der Einführungen erhöht dabei auch den Allgemeinheitsgrad. Ein Buch wie „Lessing zur Einführung“ (Junius) etwa hat nicht mehr den Fachwissenschaftler im Blick, sondern den „Interessierten“. Bei Darstellungen zu neuen Themen lässt dagegen insbesondere die Dynamik der unabgeschlossenen Verhandlungen über den Gegenstand einen Gestus der Vorläufigkeit zu (zu denken ist etwa an Titel wie „Kulturen und Literaturen des Globalen“). Disziplinübergreifende Inhalte, die sich unter Schlagworten wie ‚gender’, ‚media’ oder ‚theory’ rubrizieren lassen, sind im Medium der Einführung deshalb offenbar am besten aufgehoben. Die Anlage der Einführungen verdeutlicht in solchen Fällen, dass ein vorläufiger Wissensstand mitgeteilt wird, der noch nicht endgültig festgeschrieben ist. Einführungen, so könnte man formulieren, sind in dieser Hinsicht mittlerweile ein wichtiges Medium, um über neue Entwicklungen und aktuelle Trends zu informieren. Insofern übernehmen sie zunehmend die Funktion der traditionellen Forschungsberichte. Und im Vergleich könnte man darauf hinweisen, dass sich diese Publikationskultur dem Profil angloamerikanischer Reihen nähert, in denen neue theoretische und methodische Entwürfe ebenso wie neue Gegenstände der Forschung schnell in den Status eines ‚Wissens’ befördert werden.

‚Einführungen’, ‚Studienbücher’ und ‚Leitfäden’ angesichts der genannten Aspekte als Schwundstufen des Wissens abzutun, wäre voreilig. Einführungen verknappen bereits bestehendes Wissen nicht einfach nur, sondern genieren selbst ein spezifisch eigenes Wissen, das durch Kriterien wie ‚Relevanz’, ‚Vermittelbarkeit’ oder ‚Interessantheit’ legitimiert wird und seine Bedeutung auch in der fachspezifischen ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit’ gewinnt. Es sollte also deutlich geworden sein, dass die aktuelle Konjunktur der ‚Lehrbücher’ und ‚Einführungen’ in der Literaturwissenschaft kaum ein vorübergehender Trend sein dürfte, sondern dass sie mittlerweile feste Elemente der Wissenschaftskultur geworden sind. Die skizzierten Beobachtungen zu den Konturen des Feldes sowie zu den Gründen und Konsequenzen der Konjunktur sind in vielen Hinsichten zu ergänzen. Sie lassen dennoch schon jetzt die Vermutung zu, dass die gegenwärtige Entwicklung einen tiefgreifenden Einfluss sowohl auf den Prozess einer grundlegenden Professionalisierung literaturwissenschaftlicher Lehre als auch auf die disziplinäre Wissenschaftskultur insgesamt haben dürfte. Als Selbstbeschreibungen eines Fachs, das der Lehre einen neuen Stellenwert zugewiesen hat, können Einführungen und Lehrbücher die wichtige Funktion übernehmen, der kollektiven Verständigung über Kriterien und Standards des Studiums eine Plattform zu bieten. Wir müssen mehr über die Bildungsmedien des Fachs wissen, wenn wir die dynamische epistemische Kultur der Literaturwissenschaft verstehen wollen. Dialogpartner für eine Verständigung stehen zur Verfügung: Von der Wissenssoziologie, der Wissenschaftsgeschichte und -forschung, aber auch von der sehr aktiven Schulbuchforschung kann die Erforschung der Bildungsmedien des Fachs profitieren.

Anmerkung der Redaktion: Die Verfasser des Beitrags bereiten derzeit einen Sammelband vor, in dem verschiedenen Sichtweisen auf die Einführungen und Lehrbücher vorgestellt und am konkreten Material erprobt werden.