Weiblicher Konsum, substanzlose Kredite und nervöse Börsengeschäfte

Franziska Schößler diskutiert in „Börsenfieber und Kaufrausch“ Diskurse zu Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit um 1900

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerade in Krisenzeiten hat die Rede von der Ökonomie Hochkonjunktur. Dies gilt nicht zuletzt für die Literaturwissenschaft, die seit einigen Jahren das weite Feld der Ökonomie als einen populären Forschungsgegenstand ausgemacht hat. Franziska Schößlers Buch „Börsenfieber und Kaufrausch“, in dem die Verknüpfung des ökonomischen Diskurses um 1900 mit dem über das Judentum und die Weiblichkeit in den Blick genommen wird, könnte zu einem Standardwerk auf diesem Gebiet avancieren.

Die Verfasserin, die in der jüngeren Vergangenheit eine Monografie zur Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft sowie eine Einführung in die Gender Studies vorlegte, bleibt ihrer methodischen Ausrichtung und ihren Interessen treu. Ihr Buch will nicht nur als Analyse der Thematisierung ökonomischer Zusammenhänge in literarischen Texten um 1900, sondern auch als Beitrag zur Antisemitismusforschung sowie zu den Gender Studies gelesen werden. In dezidierter Anlehnung an die Diskursanalyse Foucault’scher Prägung und Stephen Greenblatts „New Historicism“ geht es Schößler um die Kontextualisierung literarischer Texte, deren „soziale Resonanz“ erhöht werden soll. Literatur wird nicht in einer referenzfreien Sphäre betrachtet, sondern gemeinsam mit nationalökonomischen, politischen sowie rassen- und geschlechtstheoretischen Schriften gelesen, da die unterschiedlichen Bereiche keine isolierten Systeme seien, sondern interagierten und den gleichen Diskursregeln folgten.

Entsprechend heterogen ist das Textmaterial. Neben im weiteren Sinne kanonischen Erzähltexten von Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola werden weniger bekannte deutsch-jüdische Romane von Salomon Kohn, Adolf Dessauer oder Ludwig Jacobowski einbezogen. Damit ist das Spektrum aber längst nicht ausgeschöpft, da auch Essays von Walther Rathenau oder naturalistische amerikanische Romane sowie weitgehend unbekannte literarische Umsetzungen des Kaufhaus-Sujets behandelt werden. Stets werden dabei zahlreiche andere Texte herangezogen, um ein möglichst fundiertes Bild des um 1900 herrschenden Diskurses zu gewährleisten. Der ohnehin schon sehr ausführliche Untertitel („Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola“) ist also noch eine bescheidene Untertreibung. Die Studie ist an weit mehr Autoren interessiert, als sie zunächst suggeriert.

Schößlers Erkenntnisinteresse richtet sich auf den diskursiven Umgang mit wirtschaftlichen Innovationen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, allen voran der Börse, dem Kredit und dem Kaufhaus, die „die kollektive Wahrnehmung einer radikalen Modernisierung wesentlich mitbestimmen“. Diese Umwälzungen zeitigen Spuren in der literarischen Produktion, aber selbstverständlich auch in nationalökonomischen oder politischen Schriften. Besondere Beachtung erhalten „Austauschbewegungen und interdiskursive popularisierende Argumente“. Literarische Werke werden daher nicht immanent interpretiert, sondern mit anderen Texten konfrontiert. Das ist methodisch folgerichtig, führt allerdings ein ums andere Mal dazu, dass der Leser es weniger mit einer stringenten Interpretation als mit einer Aneinanderreihung von Belegstellen zu tun hat. Besonders fallen die unzähligen eingestreuten Zitate des Wirtschaftstheoretikers Werner Sombart (der ohnehin das heimliche Zentrum des vorliegenden Buches ist) im Kapitel über Fontanes „L’Adultera“ auf, so dass der Eindruck erweckt wird, es gehe in erster Linie darum, in literarischen Texten möglichst viele Versatzstücke ökonomischer Theorien wiederzufinden. Ohnehin ist in Folge der methodischen Ausrichtung ein Hang zur Überinterpretation nicht von der Hand zu weisen. Bisweilen werden Klischees weniger aufgedeckt und dechiffriert als überhaupt erst ins Spiel gebracht – Schößler sucht mit großem Eifer nach Aspekten, die in ihr Raster passen, auch auf die Gefahr hin, sie semantisch zu überformen. Die bedeutungsdeterminierenden diskursiven Kontexte, in denen das einzelne Werk vermeintlich steht, werden zuallererst konstruiert.

Die Verfasserin zeigt auf, in welcher Weise die Literatur den ökonomischen Symbolen der Moderne begegnet. Den als dubios und spekulativ erachteten Neuerungen setzen die argwöhnische Literatur, aber auch Nationalökonomie oder Kriminologie häufig traditionelle Produktionsformen wie Handwerk oder Ackerbau entgegen. Die Diskurse operieren mit Stereotypen, die tief verankerte Vorurteile aktualisieren. Während etwa rauschhafter Konsum über das Tertium des „Irrationalen“ weiblich semantisiert wird, gelten spekulative Börsengeschäfte oder Kredite als unsolide, substanzlos und mithin als genuin jüdisch, da sich eine ganze Reihe antisemitischer Klischees mit antikapitalistischen Argumenten verbinden lassen. Über die untersuchten Sujets zeichnet Schößler „systemische Kopplungen von Geschlecht, Ethnizität und Ökonomie“ nach, um auf diesem Weg sichtbar zu machen, wie die Verleumdung von Wirtschaftspraktiken zugleich eine Festschreibung von Geschlechtsmerkmalen nach sich zieht und wie ethnische Ausgrenzungsmechanismen über das Feld der Ökonomie organisiert werden.

Die Texte des ausgehenden 19. Jahrhunderts projizieren Modernisierungsschübe auf Minoritäten. Zu diesem Zweck werden judenfeindliche „Bilder langer Dauer“ verwendet, wenn beispielsweise der Börsendiskurs die geläufigsten antijüdischen Zuschreibungen reproduziert. Demgegenüber versuchen deutsch-jüdische Texte die gängigen Klischees zu widerlegen, indem sie Idealbilder der Börsentätigkeit entwickeln. So wird zwischen Amateuren und professionellen, seriösen Börsianern unterschieden, um zu verdeutlichen, dass die modernen Geldgeschäfte nicht an sich verwerflich und undurchschaubar sind, sondern nur durch laienhafte, betrügerische Machenschaften korrumpiert werden. Diese Texte arbeiten an der Korrektur herrschender Vorurteile, wodurch sie freilich die Macht des herrschenden Diskurses bestätigen, zu dem sich all diese Texte in ihren Zuschreibungen verhalten müssen. Anders stellt es sich bei realistischen und naturalistischen nordamerikanischen Romanen, wie „The Pit“ von Frank Norris, dar, die weitgehend auf ethnische Markierungen verzichten und Spekulation ambivalent bewerten. Hier wird das Aktiengeschäft emphatisch als Integrationsmedium der Nation beschworen.

Letztlich steht und fällt diese scharfsinnige Untersuchung mit ihrer theoretischen Positionierung. Diejenigen, die schon immer Vorbehalte gegen ein diskursanalytisches Vorgehen hegten, werden alle ihre Vorbehalte bestätigt finden, während die Fraktionen derer, die hier den Königsweg einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft sehen, sich ebenso bestätigt fühlen dürften. Nach Maßgabe ihrer methodologischen Prämissen hat Franziska Schößler ein stimmiges und kluges Buch vorgelegt, das vielleicht noch kompakter und praktikabler geworden wäre, wenn die verfolgten Erkenntnisinteressen etwas bescheidener gewesen wären. Schößler interessiert sich für verschiedene Bereiche, die, obschon diskursiv verflochten, nicht immer glücklich parallelisiert werden können. Hin und wieder fällt auch die (im Ganzen bewundernswerte) Breite der Bezüge unangenehm auf, wenn Ausführungen zu einem Text durch einen Exkurs zu einem anderen unterbrochen werden, was dem Lesefluss und der Argumentation nicht immer zuträglich ist.

Zudem werden sehr viele Texte unterschiedlichster Autoren diskutiert, was zur Folge hat, dass der eine oder andere Text etwas oberflächlicher abgehandelt wird, als er es verdiente. Hinzu kommen gelegentliche Redundanzen und kleinere Fehler, etwa wenn behauptet wird, „Cécile“ sei Fontanes zweiter Roman, was falsch ist. Dennoch: Schößlers Buch dürfte in der sicher noch längst nicht erschöpften Debatte um das Verhältnis von Literatur und Ökonomie eine gewichtige Rolle spielen, da überzeugend herausgearbeitet wird, wie ökonomische Diskurse oft unterschwellig auf rassen- und gendertheoretischen Prämissen beruhen, zumal einige dieser Prämissen noch immer am Werk sind und den zeitgenössischen Diskurs strukturieren.

Dies wird abschließend an Martin Walsers Roman „Angstblüte“ unter Beweis gestellt. Aber auch jenseits der aufgearbeiteten antisemitischen und frauenfeindlichen Klischees ist es faszinierend zu entdecken, wie die kollektive Wahrnehmung der Börse in der aktuellen Krise dem Bild ähnelt, das um 1900 etabliert war. Franziska Schößler hat zwar keineswegs das Buch zur Krise geschrieben, ihren ohnehin überzeugenden Analysen kommt durch den Bezug zur Gegenwart aber noch größere Durchschlagskraft zu.

Titelbild

Franziska Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2009.
346 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783895287565

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch