Alpenveilchen oder Peitschenhieb?

Sabine Mainberger über das „Experiment Linie“ und Oliver Simons über „Raumgeschichten“ in Ästhetik, Literatur und Wissenschaft um 1900

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Friedrich Nietzsches „Formel meines Glücks“ lautete: „ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel…“. Als Nietzsche starb, glaubte eine ganze Epoche, ihr Glück in der Linie zu finden. „Wie einst Xenophons Griechen nach dem Meere, so stammelt heute alles nach der Linie“, spottete Julius Meyer-Graefe 1904, im Übrigen trug der Kunstschriftsteller selbst maßgeblich zur Popularisierung der neuen Linienästhetik bei. Doch war es nicht allein die „gerade“ Linie, die faszinierte, sondern ebenso die geschwungene. Hermann Obrists Wandteppich „Alpenveilchen“ – Spitzname „der Peitschenhieb“ – von 1895, auf dem der Stängel serpentinenartig Blüten und Blätter umschlingt, wurde zur Ikone des Jugendstils.

Die Berliner Literaturwissenschaftlerin Sabine Mainberger hat nun eine materialreiche, instruktive Studie zur Linienfaszination um 1900 vorgelegt. Der „Dämon der Linie“ (Henry van de Velde) war in dieser Zeit „ein Kultobjekt, ein Fetisch“, so die Autorin: eine epistemologische Metapher ebenso wie ein kulturkritischer Kampfbegriff. Als kollektiver Selbstausdruck sollte sich gerade in der dynamischen Linie die „sichtbare Bejahung“ des modernen Lebens manifestieren. Je simpler ihre Form, desto mehr wurde sie mit Bedeutung aufgeladen: In der Einfühlungsästhetik Theodor Lipps etwa ließ sich gerade an einfachen, vom Betrachter mit seiner Empathie belebten Linien das vitalisierende Tun des Individuums demonstrieren. Und für Wilhelm Wundt war das Ziehen einer Linie gar der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit selbst: Als „Ausdrucksbewegung“ stand der leiblich-motorische Akt für die weltschaffende Aktivität des Subjekts.

Es entsprach der Forderung der Zeit, dass das Ornament mehr als nur Dekor sein, dass es funktional sein sollte. Als ornamental im eher traditionellen Sinn lassen sich dagegen die akademischen Bandwurmsätze Sabine Mainbergers bezeichnen, deren Studie sich leider oft im Dickicht vergessener kunsttheoretischer Schriften verliert. Vitalisierend wird es immer da, wo die Autorin ein konkretes Beispiel untersucht wie etwa „The Serpentine Dance“ (1894) des amerikanischen Künstlers Will H. Bradley.

Bradley setzte mit dieser Zeichnung ein ironisches Fragezeichen hinter den neuen Glauben an den Grenzen sprengenden, dynamischen Linienschwung. Inspiriert von der für ihren Schleiertanz weltberühmten Tänzerin Loïe Fuller, ist bei Bradley statt einer menschlichen Gestalt nur ein rasanter, abstrakter Linienwirbel zu sehen. Seine Zeichnung, auf der sich die geschwungenen Linien und damit die Bewegung über den Blattrand hinaus fortsetzen, entspricht so auf den ersten Blick ganz der von der Tänzerin beabsichtigten Wirkung. Dass hinter der scheinbar schwerelosen, raumerzeugenden Bewegung und hinter der patentierten Konstruktion aus Tüchern und Stäben ein durchaus irdischer Körper steckte, wird allein an der unteren rechten Bildecke deutlich, wo zwei zierlich überkreuzte, in Slippern steckende Frauenfüßchen hervorspitzen. Sie strafen nicht nur das ambitionierte Vorhaben Fullers Lügen, so Mainberger, sondern erlauben auch den aufregenden Wechsel zwischen figuraler und abstrakter Wahrnehmung.

Nicht ohne Grund behandelt Mainberger literarische, kunsttheoretische, philosophische und psychologische Texte als gleichrangig: Auch für die „moderne Linie“ gilt, dass sie sich um tradierte Unterscheidungen wenig kümmerte. Die Ausstellung mit dem programmatischen Titel „Linie und Form“, die 1904 im Krefelder Kaiser-Wilhelm-Museum stattfand, präsentierte die revolutionäre Kapitell-Form des Belgiers van de Velde, die Säule und Deckengewölbe ununterscheidbar ineinander übergehen lässt, neben modernen Industrieprodukten wie dem imposant in die Höhe ragenden Bug des Kriegsschiffes „Princeß Wilhelm“.

Letzteres verweist auf die tieferen, von Sabine Mainberger leider eher nebenbei behandelten Gründe für die Linienfaszination um 1900. Im „Zeitalter der Nervosität“ (Joachim Radkau) und des Verlustes von Gewissheiten stand die moderne Linie nicht zuletzt für Kraft, Dynamik, Schwung und Entschlossenheit, sollte sie Ausdruck einer von Fortschritt und modernem Maschinengeist bestimmten Epoche sein. Infrage gestellt wurde das Ideal der energischen Gebärde von Vertretern der ästhetischen Moderne. Bewehrt mit Erkenntnissen der Gestaltpsychologie, ließ etwa Robert Musil in seinem Romanerstling von 1906 seinen Zögling Törless die verwirrende Gleichrangigkeit von Figur und Grund erleben: An die Stelle eines souveränen Verhältnisses zur Welt tritt hier ein Zustand unauflösbarer Ambiguität, der die Welt zu einem einzigen, ständig wechselnden Vexierbild werden lässt.

Vexierbilder, optische Täuschungen oder „Inversionen“, wie sie in den Jahren um 1900 Hochkonjunktur feierten, lassen sich nach Oliver Simons als eine „Figur des Umbruchs“, als eine „Geste der Rettung“ deuten. Inversionen, wie sie dem Leser gerade in den Werken Robert Musils, aber auch Rainer Maria Rilkes immer wieder begegnen, sind eine von mehreren, für diese Epoche typischen Umgangsweisen, mit dem epistemologischen Bruch fertigzuwerden, der eine Folge der Entdeckungen der modernen Geometrie war.

Die Geometrie, seit der Antike das Paradebeispiel einer ahistorischen und zugleich höchst anschaulichen Wissenschaft, hatte seit der Entdeckung mehrdimensionaler, nicht-euklidischer, „gekrümmter“ Räume um 1850 ihre Anschaulichkeit verloren. Plötzlich sollten sich beispielsweise parallele Linien doch schneiden, irgendwann und irgendwo – im Unendlichen.

Die faszinierenden „Raumgeschichten“ in Philosophie, Psychologie, Kunstwissenschaft und Literatur um 1900, die Oliver Simons in seiner bereits 2007 erschienenen, höchst lesenswerten Dissertation erzählt, versuchen entweder, die dreidimensionale Anschaulichkeit zu wahren, ein modernes, abstraktes Raumdenken zu etablieren oder traditionelle und moderne Geometrie, also Kant und Bernhard Riemann, miteinander zu versöhnen, wie im Werk Ernst Cassirers etwa. Inversionen und Vexierbilder wie bei Musil bringen dagegen mit ihrer Ambivalenz gerade die Eigenheit der epistemologischen Schwelle um 1900 zum Ausdruck, so Oliver Simons.

Titelbild

Oliver Simons: Raumgeschichten. Topographien der Moderne in Philosophie, Wissenschaft und Literatur.
Wilhelm Fink Verlag, München 2007.
383 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770543816

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Titelbild

Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2010.
384 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783865990990

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