Sturmwarnung

Thomas Hettche erzählt in seinem Roman „Die Liebe der Väter“ mit viel Gespür für Atmosphäre und Stimmungen eine unglückliche Vatergeschichte

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Familienferien auf Sylt. Der Buchhandelsvertreter Peter verbringt die Tage über Sylvester zusammen mit Freunden und seiner 12-jährigen Tochter Annika auf der Nordseeinsel. Annika lebt getrennt von ihm bei ihrer Mutter, mit der Peter überhaupt nicht mehr klar kommt. Seit Jahren schon fühlt er sich durch seine Ex-Frau gedemütigt und in der Ausübung seiner Vaterrolle behindert. Mit aller Macht spielt Ines ihr alleiniges Sorgerecht über Annika gegen ihn aus. Dafür bekomme sie das eigene Leben kaum in den Griff – ist Peter überzeugt. Annika leidet sichtlich unter dieser Konstellation, über Sylvester aber macht sie gute Miene, um die Tage mit ihrem Vater genießen zu können. Auch Peter gibt sich Mühe, trotzdem bleibt seine Stimmung wechselhaft. Hat er seine Tochter nicht verraten, seine Pflichten vernachlässigt? Am Ende der Ferientage wird er dies Annika gegenüber ohne Wenn und Aber eingestehen: „Ja, das stimmt. Du warst mir irgendwann nicht so wichtig wie ich mir selbst. Das ist die Schuld, Annika, die ich seither mit mir herumtrage.“ Dann aber wird die Katastrophe bereits passiert sein.

Auf seinen weltläufigen Roman „Woraus wir gemacht sind“ (2006) lässt Thomas Hettche mit „Die Liebe der Väter“ eine intime Familiengeschichte folgen. Doch Familien verkörpern längst keine heile Welt mehr, sondern bilden gefährliche Minenfelder, auf denen jeder falsche Schritt zu einer Explosion führen kann.

Die Tragik ist, dass dabei das Schicksal eines Kindes auf dem Spiel steht. Peter versucht krampfhaft zwischen Annika und ihrer Mutter zu trennen. Das fällt ihm sichtlich schwer. So droht er auch Annika mit in den Strudel seiner Gefühle der Benachteiligung und Demütigung hinabzuziehen. Die Freunde, die Peter beistehen könnten, bleiben zurückhaltend. Wer will schon unnötige Risiken eingehen?

Gerade diesbezüglich wartet Hettches Roman mit besonders scharfen Spitzen auf. Als Peter nach der Explosion während des Sylvester-Essens (er hat Annika eine Ohrfeige verpasst, so dass diese ausreißt) ihren Zuspruch oder ihre Kritik sucht, weisen sie ihn ab – teils indigniert, teils auch nur aus Verlegenheit. Kathrin scheint von ihnen am ehesten in ihrer moralischen Anklageposition gefestigt. Ihr Mann Florian macht sich nur kurz und zögerlich bemerkbar, um sich gleich wieder ins Schweigen zurückzuziehen. Achim wirkt dominant, doch im Grunde überspielt er damit die eigene Schwäche. Einzig Susanne stellt sich auf die Seite Peters (ihres früheren Freundes), verrät sich aber schließlich selbst, als sie ihm in einem unbedachten Moment verzweifelt und betrunken in die Arme fällt. Zuletzt werfen sie sich einhellig in Anklagepose, hoffend, es möge ihnen in ihrem selbstgerechten Familienkokon nie so ergehen.

Thomas Hettche orchestriert seine intime Geschichte effektvoll, dennoch unaufdringlich mit einem Wintersturm auf Sylt und mit dem sich abzeichnenden Börsencrash. Diese Nebeneffekte begleiten die finstern Prophezeiungen, die im Zeitalter der Internetöffentlichkeit herumgeistern und sich mit alten Sagen verbinden. Annika ist davon fasziniert. Sie erklärt ihrem ungläubigen Vater die Mär von den zwölf Rauhnächten um die Jahreswende: „Wer weiße Wäsche aufhänge, rufe Frau Harre herbei, die eigentlich ja Frau Holle sei, aber überhaupt keine Märchentante, sondern Hel, eine germanische Göttin. Das Wäschestück, das sie von der Leine mitnehme, benutze sie im folgenden Jahr als Leichentuch für den, dem es gehört habe.“ Die Angst fordert Tribut, die „Wilde Jagd“ kündet sich mit einem Sturm an.

„Die Liebe der Väter“ verrät eine souveräne Handschrift, die die Erzählung behutsam beginnen, überraschend aufschäumen und zuletzt düster in sich zusammensacken lässt. Peters Wut gleicht eher einer Implosion als einer Explosion, auch wenn die Ohrfeige Annika schmerzt und die Freunde in ihrem moralischen Selbstverständnis kränkt. Dabei macht der Ich-Erzähler keine besonders glückliche Figur. Zu Beginn wirkt er unzufrieden, aber immerhin gefasst. Aus Sicht der kühlen Helen Salentin, deren Sohn Annika auf Sylt kennen lernt, erscheint er als verkniffener Mann, dessen Äußeres wenig anziehend wirkt. Die Ohrfeige am dramatischen Höhepunkt bezeugt jedoch das unterschwellige Brodeln in seiner Brust, das Verletztheit und Hass verrät – Gefühle, die auf einmal in ihm zerplatzen.

Das wird von Hettche subtil und ganz ohne sentimentales Pathos inszeniert. Der heraufziehende Konflikt ist dabei ganz aus der voreingenommenen Optik des Vaters und Ich-Erzählers Peter geschildert. Damit gibt der Roman viel über ihn preis, so dass sein verbissener Kampf um seine Tochter am Ende versteh- und nachvollziehbar wird. Auf der anderen Seite gereicht diese narrative Konstellation Annikas Mutter notgedrungen zum Nachteil. Ob sie allerdings derart psychopathisch veranlagt ist, wie Peter weismachen will, darf bezweifelt werden. Hettches Roman behält trotz allem feine Zwischentöne bei und legt ein dichtes Netz von widersprüchlichen Signalen aus, die bis zum Ende nie ganz ihre Ambivalenz verlieren.

Ein Beitrag zur Sorgerechtsdebatte ist dieser Roman nicht. Er ist vielmehr das Porträt eines verletzten Vaters, der auch aus eigenem Verschulden seine Tochter nach und nach zu verlieren droht, weil er und seine geschiedene Frau sich nicht gütlich zu einigen vermögen. Peter bleibt ohnmächtig – ist am Schluss aber um ein Eingeständnis reicher. Und Annika hat wenigstens ihren Vater etwas schmerzhaft besser kennen gelernt.

Titelbild

Thomas Hettche: Die Liebe der Väter. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
224 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783462041873

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