Was Walther von der Vogelweide, Friedrich Hölderlin, Karl Marx und Bob Dylan zusammenbringt

Der Tagungsband „Materialität in der Editionswissenschaft“ vermittelt einen aktuellen Überblick über eine lebendige und vielseitige Disziplin

Von Dorothée LeidigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothée Leidig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch vor wenigen Jahren hätten die illegalen Konzertmitschnitte von Bob DylansNever ending tour“ nichts auf einer wissenschaftlichen Tagung über editorische Fragen zu suchen gehabt. Etwas exotisch wirken diese Bootlegs auch heute noch zwischen mittelalterlichen Handschriften, Wasserzeichenkunde und Theodor Fontanes Notizbüchern, doch die technische Entwicklung, vor allem die Digitalisierung, hat in den Editionswissenschaften neue Türen aufgestoßen. Gleichzeitig ist das Interesse der Geistes- und Kulturwissenschaften am Material und an der Materialität erheblich gewachsen. Dabei haben sich neue – zum Teil überraschende – Anknüpfungspunkte, Schnittmengen, Fragestellungen und Herausforderungen entwickelt.

Im Verlauf dieser erfreulichen Entwicklung ist allerdings ein wenig der Überblick verlorengegangen. Um diesem Missstand abzuhelfen, richtete die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) im Februar 2008 die internationale und interdisziplinäre Tagung „Materialität in der Editionswissenschaft“ aus. Erklärtes Ziel der Tagung war eine umfassende Auseinandersetzung mit Materialität aus der Perspektive verschiedener Disziplinen, in der sowohl pragmatische als auch theoretische und philosophische Aspekte berücksichtigt werden. Schon bald nach der Tagung wurden die Plenumsvorträge im Jahrbuch „editio 22“ veröffentlicht. Die übrigen 35 Beiträge sind kürzlich von Martin Schubert in dem hier besprochenen eigenen Band herausgegeben worden.

Alles, was aufgezeichnet wird, entsteht zunächst im Kopf. Erst in dem Moment, wo es in irgendeiner Form fixiert wird, wird es im wahrsten Sinne des Wortes greifbar, wird Materialität. In den vielen Jahrhunderten, in denen die Handschrift das einzige Überlieferungsmedium war, kann man Materialität mit Beschreibstoff und Schreibwerkzeug gleichsetzen. Im 15. Jahrhundert kommt der Druck dazu, gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird durch den zunehmenden Gebrauch der Schreibmaschine der Unterschied zwischen Manuskript und Druck verwischt und die individuelle Schrift weicht standardisierten Typen. Im vorigen Jahrhundert erschließen akustische und digitale Aufzeichnungen ganz neue Überlieferungswege. Mit der Frage, wie die sehr verschiedenen überlieferten Originale wiedergegeben und vervielfältigt werden können, beschäftigen sich die Editionswissenschaften.

Dem Tagungsziel entsprechend ist das Spektrum der Beiträge zeitlich wie thematisch ausgesprochen breit angelegt, ohne sich jedoch in Beliebigkeit zu verlieren. Den Anfang machen zwei Aufsätze zur Analyse von Tinte und Wasserzeichen und drei eher theoretisch ausgerichtete Aufsätze über Briefeditionen und das Sammeln von Autografen. Der anschließende, lange Reigen anschaulicher Beiträge, die editorische Fragen an Fallbeispielen erörtern, beginnt mit Luigi Reitamis „Schreiben, setzen, einritzen. Hölderlins Schreibszene im Homburger Folioheft“. Friedrich Hölderlin hatte das Folioheft wohl ursprünglich für Reinschriften vorgesehen, diesen Vorsatz aber nur 15 Seiten durchgehalten, danach benutzte er das Heft ausschließlich für Entwürfe. Dichtbeschriebene Seiten wechseln sich mit leeren und solchen Seiten ab, die nur wenige Zeilen oder einen Titel aufweisen. Hält man die auf den ersten Blick vollkommen leer wirkende Seite 40 etwa gegen das Licht, erkennt man einige Zeilen, die mit trockener Feder eingeritzt wurden: „Und der Himmel wird wie eines Mahlers Haus / Wenn seine Gemählde sind aufgestellet.“ Hier gehen Materialität und Bedeutung eine untrennbare Verbindung ein. Wie lässt sich so etwas edieren oder – wie Reitami es ausdrückt – in das Modell der Edition übersetzen? Was kann und soll eine Edition überhaupt leisten? Welche Symbiose von traditionell editorischem Handwerk und neuester Technologie ist möglich, notwendig und sinnvoll?

Fragen dieser Art ziehen sich wie ein roter Faden durch die Beiträge. So stellt etwa Ulrich Bubrowski die Notizbücher Ernst Barlachs vor, denen man ein bewegtes Leben ansieht. Barlach benutzte seine Notizbücher im Hoch- wie im Querformat, er riss Seiten heraus, klebte andere Seiten ein oder nähte sie gar an. Die Tagebücher des Schriftstellers, Weltreisenden, Politikers und Pazifisten Harry Graf Kessler enthalten neben Tagebuchaufzeichnungen auch kunsttheoretische Betrachtungen, Zeichnungen, Fotos, Zeitungsartikel, Recherchen, Fahrpläne, Eintrittskarten und Dienstbefehle. Angela Reinthal beschreibt die Schwierigkeiten, diese Arrangements in eine Edition zu übertragen. Vor ähnlichen Problemen steht Gabriele Radecke bei den Notizbüchern Theodor Fontanes, in denen sich „die Aura des ganzen Fontane“ spiegelt. Bei den Texten Walthers von der Vogelweide können wir leider nicht auf Autografen zurückgreifen. Walthers Ton 36/36a ist in vier Handschriften in unterschiedlicher Konsistenz überliefert. Thomas Bein gewährt einen Blick in die laufende Arbeit an einem noch nicht zufriedenstellenden neuen Editionskonzept, das diesem heiklen Überlieferungsbefund gerecht wird.

Wäre das mittlerweile recht kostengünstig zu produzierende digitale Faksimile möglicherweise die Lösung der angesprochenen Probleme? Die übereinstimmende Antwort lautet: Es ist ein wichtiger Beitrag, der Weisheit letzter Schluss ist es jedoch nicht. So zeigt etwa Richard Sperl am Beispiel der Marx-Engels-Gesamtausgabe, wie wichtig nicht nur die Umschrift der oft nur schwer lesbaren Handschriften ist, sondern auch, welche Bedeutung die editorische Erschließung und Bearbeitung für das Werkverständnis hat. Mit einem Faksimile wäre nur absoluten Spezialisten gedient. Als Modell der Zukunft kristallisiert sich die Hybridedition heraus, die aus einer Kombination von Buch und digitalem Medium besteht.

Sechs Beiträge, die auf Grund ihrer Länge oder ihrer Ausrichtung wohl nicht besser unterzubringen waren, schließen den Band ab. Hier findet sich auch der Aufsatz über Bob Dylans Bootlegs, in dem Johannes John aufzeigt, welch gigantische Aufgabe allein die Erfassung der Konzertmitschnitte bedeutet. Ganz zu schweigen von den (Urheber-)Rechtsfragen, die beinahe jede Veröffentlichung berühren und die Winfried Woesler im letzten Beitrag erläutert.

Die Editionswissenschaft zeigt sich in den 35 sorgfältig lektorierten Beiträgen des Tagungsbandes als lebendige, vielseitige Disziplin mit spannenden Projekten und großer Offenheit für neue Entwicklungen. Schade ist indes, dass fremdsprachige Überlieferungen und solche von Frauen entschieden unterrepräsentiert sind, Außereuropäisches kommt überhaupt nicht vor. Vielleicht wäre dies ja eine interessante Aufgabe für eine der nächsten Tagungen.

Titelbild

Martin Schubert (Hg.): Materialität in der Editionswissenschaft.
De Gruyter, Berlin 2010.
493 Seiten, 129,95 EUR.
ISBN-13: 9783110231304

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