Die „French Connection“ der britischen Literaturwissenschaft

Zum Tod des britischen Kritikers Frank Kermode

Von Gerhard LauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Lauer

Die Öffnung der britischen Literaturwissenschaft für das, was man auf der Insel bis heute nicht ohne Distanz „French Theory“ nennt, ist eng mit dem Namen Frank Kermodes verknüpft. Anfang der 1960er-Jahre hatte er in seinen Seminaren damit begonnen, die französischen Strukturalisten und bald auch die Poststrukturalisten zu behandeln und darüber zu schreiben. Claude Lévi-Strauss, Jacques Lacan oder Roland Barthes hielten Einzug in die von der Klassischen Philologie und englischen Romantik so stark geprägte literaturwissenschaftliche Ideenwelt des New Criticism. Kermode war ihr Sprecher und forderte im „Observer“, eine andere als die etablierten literaturkritischen Zeitschriften müsse gegründet werden, um dem neuen literaturkritischen Denken eine Stimme zu geben. 1979 wurde die „London Review of Books“ gegründet. Kermode trug mit mehr als 200 Artikeln dazu bei, dass die LRB bald schon eine der tonangebenden literaturkritischen Zeitschriften wurde und er selbst zu einer der zentralen intellektuellen Figuren aufstieg, die das Englische so sicher mit „literary critic“ auf den Begriff zu bringen weiß, wofür das Deutsche immer mindestens zweite Worte braucht, „Literaturwissenschaftler“ und „Literaturkritiker“.

Kermode wurde 1919 in einfachen Verhältnissen auf der Isle of Man geboren, studierte in Liverpool, war während des Krieges auf Island stationiert, und kam in den 1960er-Jahren über viele Stationen nach London ans dortige University College, als die Fundamentalliberalisierung der Gesellschaft zum Projekt der akademischen Eliten wurde. London war anders als die etablierten Orte Oxford oder Cambridge dafür der rechte Ort, irgendwie die Opposition gegen das Establishment der Philologien. Doch die Revolution rannte auch dort eher offene Türen ein. Schon 1974 berief ihn die Universität Cambridge auf eine Professur für Englische Literatur. Die Kritik war schnell in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Kermode schrieb Essays und Rezensionen und brachte Bücher über die neomarxistischen Theoretiker raus, die man zu lesen hatte, wenn man mitreden wollte. In Deutschland erschienen damals im dtv-Verlag seine Bücher über Herbert Marcuse oder Wilhelm Reich und erklärten elegant und ohne Umschweife, warum alte Romantik und neue Sozialtheorien modern seien. 1982 wechselte Kermode nach internen Streitigkeiten von Cambridge an die Universität Columbia, New York. Hier schrieb er über die Literatur von James Joyce bis John Updike, über Seamus Heaney’s Beowulf-Übersetzung oder die Gedichte Wallace Stevens‘. Selbst ein Autor wie Philip Roth, der sonst keine Kritiken seiner Bücher liest, hat bekannt, Kermodes Rezensionen seiner Bücher nicht auszulassen. Mit seinem Band „Pleasing Myself” hat sich Frank Kermode auf das Klügste als Literaturkritiker profiliert.

Immer öfters kam dann auch das Schreiben über die großen Alten hinzu, über Shakespeare, John Donne oder Herbert Spencer. Kermodes Urteil war tonangebend, weil es Kunst und Kritik elegant verbunden und unterschiedliche Öffentlichkeiten zu erreichen verstanden hat. Kermode hatte zeitweise auch einen Lehrstuhl für Poetik der Universität Harvard inne oder bearbeitete zusammen mit Alexander Goehrs Shakespeares „Lear“ als Opernlibretto. Wissenschaft, Kritik und Kunst kamen hier glücklich zusammen. 1991 verlieh ihm die Queen den Rittertitel, eine Ehre, die vor ihm zuletzt dem exzentrischen Dichter und literary critic William Empson zuteil geworden war. Spätestens damit zählte der arme Junge von der Insel unter die Gentlemen-Gelehrten seines Landes.

Kermode schrieb für den Tag und dabei immer auch etwas für die Nachwelt. Seine Vorlesungen über die Aufgabe der Literatur und des Lesens, noch in Krisen und Apokalyptik einen Sinn erkennen zu können, die als Buch „The Sense of An Ending” 1967 herausgekommen sind, gehören neben seinen Arbeiten zur Geschichte der englischen Romantik und immer wieder Shakespeare („Shakespeare‘s language“) zu seinen bis heute wieder aufgelegten Büchern. Sein letztes Buch „Concerning E.M. Forster“ (2009) bringt dessen Clark-Lecture von 1927 heraus, eine magistrale Darstellung des britischen Selbstverständnisses der literary critics. Ihr Gelehrtenideal ist noch eng an die Konversationskunst gebunden, bei der man dem anderen zuerst zuhört, dabei konzentriert an seiner Pfeife zieht, wie es auch Kermode so gerne getan hat, um dann mit einer bescheiden daher kommenden Geste eines Dandys etwas entschieden Klügeres darauf zu antworten. Kein Wunder, dass Kermode sein eigener Enthusiasmus für die „French Theory“ fraglich geworden ist und sein Fach zuletzt verdächtigt hat, nur noch um sich selbst zu kreisen. Vielleicht aber, so schränkt er gleich wieder ein, gehört zu einer Zivilisation auch das intellektuelle Stammeln notwendig dazu. In Hunderten von Essays und Literaturkritiken und mehr als vierzig Büchern, zuletzt auch in seinen selbstironischen Erinnerungen „Not entitled“ hat er gezeigt, wie Wissenschaft und Kritik in der Kunst der Konversation zusammenkommen können. Am 17. August 2010 ist der große britische Konversationalist Sir Frank Kermode im Alter von 90 Jahren in Cambridge verstorben.