Lost and Found

Christian Liedtke ediert eine wiederaufgetauchte Handschrift Heinrich Heines

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus Anlass des 150. Todesjahres Heinrich Heines fand 2006 in Potsdam ein Symposium statt, das dem Spätwerk „Lutezia – Lutèce“ gewidmet war und dessen Ergebnisse bereits im Jahr darauf in einem von Arnold Pistiak und Julia Rintz herausgegebenen Sammelband veröffentlicht werden konnten. Heine hatte sich 1851 erstmals mit dem Gedanken getragen, seine von 1840-1843 entstandenen Artikel für die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ in einem Buch zusammenzufassen. Im Oktober 1854 erschienen sie grundlegend überarbeitet als die Bände zwei und drei seiner „Vermischten Schriften“ unter dem Titel „Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben“. 1855 wurde auch noch eine erneut von Heine stark bearbeitete französische Fassung veröffentlicht.

Mit der Beschäftigung mit diesem lange eher von der Forschung vernachlässigten Spätwerk rücken gleich zwei Aspekte von Heines Werk in den Blick: seine journalistische Tätigkeit und die Bearbeitung dieser Texte für spätere Buchausgaben. Auch frühere Zeitungstexte von Heine wie die in unmittelbarer Reaktion auf die Junirevolution 1830 in Paris entstandenen „Französischen Zustände“ waren von ihm für die Buchausgabe zum Teil deutlich verändert worden. Zur Erforschung dieser Eingriffe konnte bislang ausschließlich auf die in der Zeitung erschienenen Fassungen zurückgegriffen werden. Als ein weiterer Aspekt kann angeführt werden, dass dem Feuilleton insgesamt, das Vertretern deutscher Innerlichkeit als Inbegriff zivilisatorischer Oberflächlichkeit galt und gerne im Rahmen der Dichotomie (französische) Zivilisation versus (deutsche) Kultur abgewertet wurde, als einer spezifischen Ausdrucksform der Moderne sowie als einem Medium zur Aushandlung jüdischer Zugehörigkeit seit einiger Zeit in der Forschung zu Recht neue Aufmerksamkeit zukommt.

Vor diesem Hintergrund ist die Neuedition eines journalistischen Beitrags Heines, seiner Urschrift der neunten Folge seiner Französischen Zustände von 1830, ausdrücklich zu begrüßen. Auch ist dem Herausgeber Christian Liedtke nur zuzustimmen, dass Heines zeitgeschichtliche Korrespondenzen aus dem Paris nach der Junirevolution die Grenzen ihrer Gattung überschritten und somit für die Geschichte des Journalismus eine herausgehobene Bedeutung besäßen. Für Liedtke markieren sie „das Ende der Trennung zwischen Reportage und Literatur, zwischen politischer Zeitkritik und poetischer Weltbetrachtung, zwischen objektiver, tagesaktueller Berichterstattung und subjektiver künstlerischer Gestaltung“, ja, mit ihnen beginne regelrecht „die Geschichte des modernen politischen Journalismus und des deutschen Feuilletons“. Das damalige Publikum staunte über die kühnen, von Augenzeugenschaft und mutigem Urteil geprägten Texte, während diese andererseits den Argwohn der Obrigkeit erweckten. Die restaurative Politik in Preußen und Österreich nach dem Wiener Kongress sah sich durch diese Revolutionsberichte jedoch so sehr herausgefordert, dass die Artikelserie schon nach der achten Folge abgebrochen wurde. Die jetzt wiederaufgetauchte Handschrift blieb ungedruckt.

Wenn auch die Bedeutung der „Französischen Zustände“ außer Frage steht, die vom Herausgeber völlig zu Recht als „Meilenstein der deutschen Literatur- und Pressegeschichte“ eingeschätzt werden, so ist gleichwohl die besondere Bedeutung der vorliegenden, nicht gerade preiswerten Edition der Urfassung des Artikels IX der Französischen Zustände damit noch nicht beantwortet. Wie schon von anderen Rezensenten bemerkt, handelt es sich nicht wirklich um eine philologische Sensation. Der Text war zwar damals nicht mehr in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ erschienen, die Urschrift aber war seit der ersten, von Ernst Elster besorgten wissenschaftlichen Heine-Gesamtausgabe, die zwischen 1887-1890 erschien, bekannt. Schon Elster hatte angenommen, dass sie Heine bei der Abfassung der Buchausgabe seiner Französischen Zustände, die 1832 herauskam, nicht vorgelegen haben konnte, weil der größere Teile der Urfassung für die in der Buchausgabe vorhandene IX. Folge offensichtlich nicht verwandt hatte. Zudem war der Text von Heine vom 25. auf den 6. Juni zurückdatiert worden, sehr wahrscheinlich, um so seinen Bericht näher an den Pariser Aufstand heranzurücken. Nach Elsters Einsicht in die Handschrift verlor sich deren Spur allerdings bald wieder, und sie lag auch den Herausgebern der Düsseldorfer Heineausgabe nicht mehr vor. So blieb bislang unmöglich nach zu verfolgen, welche Änderungen Heine selbst am Manuskript vornahm. Diese nun sowohl anhand des 40-seitigen Faksimile der Handschrift als auch in einer diplomatischen und kommentierten Umschrift nachvollziehen zu können, ist das Verdienst der vorliegenden Ausgabe. Ergänzt wird der Band von einer emendierten Fassung, die Heines Text in redigierter Endfassung ohne Streichungen et cetera wiedergibt, einem kundigen Nachwort des Herausgebers zur Geschichte des Manuskripts sowie einem Essay Martin Walsers. Warum allerdings ausgerechnet Walser, dessen Umgang mit Juden wiederholt kritisiert wurde, dafür ausersehen wurde, Heine für eine schon häufig von Walser vorgebrachte Position – über Literatur urteilen dürfe nur, wer Werk (und Autor?) liebe – in Anspruch nehmen zu können, bleibt wohl das Geheimnis des Herausgebers.

Titelbild

Heinrich Heine: Französische Zustände. Artikel IX vom 25. Juni 1832. Urfassung.
Herausgegeben von Martin Liedtke. Mit einem Essay von Martin Walser.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2010.
299,00 EUR.
ISBN-13: 9783455402124

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