Bewährt und gut

In Harald Burgers vierter Auflage der Einführung in die Phraseologie am Beispiel des Deutschen bleibt fast alles beim Alten

Von Nils BernsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Bernstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1999 wurde die Europäische Gesellschaft für Phraseologie (EUROPHRAS) gegründet, die die endgültige Konsolidierung der Forschungsdisziplin Phraseologie und deren Emanzipation von der Rolle als Stiefkind der Lexikologie besiegelte. Harald Burger war ihr damaliger Präsident. Seitdem finden regelmäßig mindestens alle zwei Jahre große internationale Kongresse statt, die mit der Ausnahme des 2003 ausgerichteten Kongresses in Tunesien von Professorinnen und Professoren an europäischen Universitäten organisiert wurden.

In den veröffentlichten Tagungsbänden der EUROPHRAS werden die klassischen Eigenschaften von Phraseologismen mehr und mehr aufgebrochen. So gelten mittlerweile die Kategorien Idiomatizität (also die übertragene Bedeutung eines vollidiomatischen verbalen Phraseologismus wie „etwas auf dem Kasten haben“), Festigkeit (also die Immunität gegen morphosyntaktische oder lexikalische Kommutation der Komponenten „*sehr geehrte Herren und Frauen“) und Polylexikalität (das heißt, ein Phraseologismus muss mindestens aus einem Autosemantikon nebst Synsemantikon bestehen) als nur noch graduelle Phraseologizitätskriterien. Das bedeutet, nicht alle Phraseologismen müssen idiomatisch sein, die Festigkeit kann im Rahmen grammatischer Akzeptanz aufgebrochen werden und Komposita oder so genannte Einwortmetaphern wie „Mauerblümchen“ sind als Randgruppe zu berücksichtigen, da auch hier das Phänomen der übertragenen Bedeutung greift. Angesichts der mittlerweile überhand nehmenden Forschungslage, der zur Debatte stehenden Eigenschaften von Phraseologismen und der vielen offenen Fragen als Grundlage eines produktiv-angeregten wissenschaftlichen Diskurses ist es erfreulich, dass Burgers Werk kompetent in den linguistischen Teilbereich der Phraseologie einführt und nun in der vierten, neu bearbeiteten Auflage vorliegt.

Nunmehr sind insgesamt vier verschiedene Einführungen in die Phraseologie vorhanden, wobei Wolfgang Fleischers und Christine Palms Einführungen bereits schon 13 Jahre zurückdatieren und trotz der guten Lesbarkeit gerade von Palms Buch ob der fehlenden Aktualität eine Anwendbarkeit im Seminar fraglich ist. Elke Donalies’ Einführung „Basiswissen Deutsche Phraseologie“ ist wegen des geringen Umfanges und der nicht erforderten Vorkenntnisse durchaus zu empfehlen. Und schließlich auch Burgers aktualisierte Fassung. Es fragt sich also, was alles im Gegensatz zu seiner dritten Auflage neu bearbeitet ist. Auf den ersten Blick ist es nicht viel, auch auf den zweiten nicht.

Das Buch bildet den 36. Band der Reihe „Grundlagen der Germanistik“. Nunmehr wurde es zusätzlich in die Reihe der „ESVbasics“ des Erich Schmidt Verlages aufgenommen. Diese Reihe soll in besonderem Maße „den Bedürfnissen der Studierenden in den neuen Bachelor- und Masterstudiengängen angepasst worden“ sein, wie der Verlag in einer Broschüre bekannt gibt. Gemessen an den kaum signifikanten Unterschieden, die zwischen dritter und vierter Auflage Burgers Einführung feststellbar sind, dürften sich die Bedürfnisse der Studierenden nach der Hochschulreform kaum geändert haben, wenn man der Aussage des Verlages Glauben schenken würde.

Markantester Unterschied neben dem neuen Layout sind die neu verfassten Informationskästen, die die Kapitel knapp skizziert zusammenfassen. Die Orientierung im Buch fällt sehr viel leichter, weil mittlerweile Kapitelnummer und -titel in der Kopfzeile vermerkt sind. Dass aber eine Neuanschaffung lohnt oder tatsächlich nunmehr eine modulgerechtere Verwendung im Seminar gegeben ist, kann nicht behauptet werden. Bereits ohne diese Überarbeitungen eignete sich das Buch vorzüglich für einführende Seminare in die Phraseologie. Allerdings spricht die gewissenhaft aktualisierte Bibliografie für das wissenschaftliche Arbeiten mit der Neuauflage. Im Vorwort erwähnt Burger die oben genannten Einführungen in die Phraseologie. Natürlich fehlt nicht der Hinweis auf den 28. Doppelband der renommierten Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK), der 2007 erschienen ist und sich ausschließlich der Phraseologie widmet. Burger ist Mitherausgeber dieses Bandes. Ferner rät er im Vorwort, nicht gängige Termini der Linguistik, die im Rahmen seiner Einführung nicht erläutert werden können, in einschlägigen Lexika nachzuschlagen. Natürlich wird hierbei nicht mehr auf die dritte, sondern auf die vierte, 2008 vorgelegte Auflage von Hadumod Bußmanns bekanntem „Lexikon der Sprachwissenschaft“ hingewiesen.

Wünschenswert bleibt ein expliziter und gesammelter Hinweis auf Desiderate. Dies ist aus den Umfang betreffenden Gründen in Einführungen bisher selten der Fall. Doch gerade hier könnten kompetente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich durch die Autorschaft einer Einführung auf dem jeweiligen Gebiet hinreichend bewährt haben, auf offene Fragen in der Fachdiskussion hinweisen und so orientierend auf Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wirken. Bislang muss man sich die einzelnen Hinweise auf weiterführende erkenntnisbringende Fragestellungen zusammensammeln. So schloss bereits die dritte Auflage von Burgers Buch einzig mit dem Wunsch einer empirischen Studie zum Problembereich regional eigenständiger und soziolinguistisch zu differenzierender Phraseologismen. Dies dürfte jedoch nicht das einzige Desiderat der Phraseologie bilden, das auch in der vierten Auflage moniert wird.

Lediglich Donalies’ „Basiswissen Deutsche Phraseologie“ bildet eine ernst zu nehmende Alternative für die Vermittlung der Phraseologie. Palm und Fleischer hingegen sind anzuraten, um sich einen Überblick über die Forschungsgeschichte zu verschaffen. Denn Fleischer setzt sich von der mittlerweile vorherrschenden opinio communis ab, Sprichwörter in den Bestand des phraseologischen Sprachsystems einzuschließen und grenzt Parömien entschieden aus. Palm wiederum bietet einen guten, gerafften Überblick zum weiten Feld der Modifikationen und veranschaulicht diese oftmals an literarischen Texten. Burgers neu bearbeitete Auflage dürfte ansonsten wegen ihrer Aktualität und trotz der kaum auffallenden Unterschiede zur vorhergehenden Auflage außerhalb der Konkurrenz stehen.

Auf der vergangenen Tagung der EUROPHRAS in Granada wurde Jarmo Korhonen (Universität Helsinki) zum Präsident der Gesellschaft gewählt. Erfreulich ist, dass auf der von ihm in der finnischen Hauptstadt organisierten Tagung vor zwei Jahren Harald Burger zum Ehrenpräsidenten ernannt wurde und sich auch nach – oder gerade wegen (?) – seiner Emeritierung rege in die Forschungsdiskussion einbringt.

Titelbild

Harald Burger: Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2010.
239 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783503122042

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