Das spezifisch Humane – Stefan Diebitz über „Spiel und Widerspiel. Der Mensch in seiner Natur“

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kennt das Leben Stufen der Entwicklung? Unterscheidet sich das Tier prinzipiell oder allein graduell vom Menschen? Und was bedeutet das für unser Selbstverständnis, besonders aber für die Moral?

In Spiel und Widerspiel beschreibt Stefan Diebitz unter Zuhilfenahme von biologischer, psychiatrischer und philosophischer Fachliteratur systematisch das Verhältnis der verschiedenen Formen des Lebens zueinander. Dabei wird eingangs gezeigt, dass der Mensch erst in dem Augenblick, in dem er über Erinnerung verfügt, auch ein Selbstbewusstsein und damit die Anfänge der Moral entwickeln kann. Das Verhältnis zwischen einem unbewussten und einem bewussten Wesen spiegelt sich wider in dem Verhältnis von Gedächtnis und Erinnerung. Das Gedächtnis beobachten wir auch bei Tieren, und zwar schon bei den primitivsten Lebensformen, die Erinnerung hingegen findet sich einzig und allein beim Menschen. Auch den höchsten, uns nahestehenden Tieren ist sie mit hoher Wahrscheinlichkeit unbekannt.

Das Gedächtnis ist statisch, objektiv und fremdbestimmt, die Erinnerung dynamisch, subjektiv und selbstbestimmt. Das Gedächtnis geht im Verhalten auf, denn es ist wie die Wahrnehmung von vornherein in die Bewegung des Lebens hineingenommen und ohne diese gar nicht zu verstehen. Es ist eine Eigenschaft von allen Organismen, die zur Eigenbewegung fähig sind, und es ist einzig und allein auf die Zukunft bezogen.

Bewusstsein ist weit mehr als das bloß formale Wissen darum, dass ich selbst es bin, der das alles sieht und erfährt, denkt und träumt, denn Bewusstsein ist die Fähigkeit, von sich selbst eine bildhafte Vorstellung zu besitzen und zu pflegen. Ein Wesen mit Bewusstsein sieht sich selbst in seinem Inneren, und eben dieses Sich-selbst-Erblicken macht das Wesen der Erinnerung aus.

Nur wer Wahrnehmung kennt, besitzt auch ein Gedächtnis; und weil jede Wahrnehmung an Eigenbewegung gebunden ist, kennen allein Tiere und Menschen die Wahrnehmung.

Die drei grundsätzlich verschiedenen Formen des Lebens unterscheiden sich in ihrem Verhältnis zum Raum, zur Zeit und zu sich selbst. Thema sind also die verschiedenen Formen der Sensitivität, der Bewegung und des Selbstverhältnisses. Ein weiterer, von den Lebenswissenschaften sträflich vernachlässigter Aspekt ist die äußere Gestalt. Bewegung, Ausdruck und Wahrnehmung bilden in ausnahmslos jedem Lebewesen eine unlösbare Einheit, denn sie sind in ihrem Wesen aufeinander bezogen: die Sensibilität entspricht den Ausdrucksmöglichkeiten und der Bandbreite des Verhaltens. Ihr Maß ist die Intelligenz, die sich nicht auf intellektuelle Aspekte reduzieren lässt, sondern alle Bewegungen umfasst, zu denen auch der Ausdruck von Gefühlen und Absichten gezählt werden muss; intelligente Wesen bewegen sich schnell, leicht und geschickt, sie sind aufmerksam, sensibel und weltoffen, Leib und Verhalten sind expressiv und variabel. Damit ist noch gar nicht das spezifisch Humane erreicht, denn alle diese Beschreibungen gelten bereits für das Tier.

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Titelbild

Stefan Diebitz: Spiel und Widerspiel. Der Mensch in seiner Natur.
der blaue reiter. Verlag für Philosophie, Aachen 2009.
381 Seiten, 28,90 EUR.
ISBN-13: 9783933722287

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