Überall zu Hause und nirgends daheim

Doron Rabinovici schickt die Helden seines neuen Romans „Andernorts“ auf die Suche nach ihrer Herkunft, ihrer Identität und ihrer Zugehörigkeit – und letztlich auf die Suche nach ihrer Geschichte

Von Ines SchubertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Schubert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Historikerstreit, die Walser-Bubis-Kontroverse, die Diskussionen um das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und nun das: Zwei in Wien lebende Intellektuelle führen eine erbitterte Feuilleton-Schlacht um das „richtige Gedenken“ an die Opfer des Holocaust.

Auf der einen Seite: Ethan Rosen, ein jüdischer Soziologe, der sich dem Verdacht ausgesetzt sieht, er vertrete in israelischen Zeitungen eine andere Meinung als in den deutschsprachigen Medien der Täter. Und auf der anderen Seite: Rudi Klausinger, ein nichtjüdischer Judaist, der aber zum Judentum konvertieren will und Rosen diesem Verdacht ausgesetzt hat. Außerdem wirft er Rosen vor, dieser schwinge auch deshalb die „Antisemitismuskeule“, um ihn im Kampf um eine Wiener Professur aus dem Feld zu schlagen. Beide halten sich – ob berechtigt oder nicht wird noch zu klären sein – für die Söhne des Ehepaars Felix und Dina Rosen, zweier in Österreich geborener, in Tel Aviv lebender Juden, die den Konzentrationslagern entkamen und heute gern so tun, „als wären alle Juden auf der ganzen Welt ein einziges Familienunternehmen.“

Oftmals unglaublich komisch, teilweise ungewöhnlich absurd und immer wieder unerwartet berührend – es sind wunderbare Figuren, die in Doron Rabinovicis neuem Roman „Andernorts“ auftreten. Es ist auch ein wunderbares Buch. Hier geht es um die ganz großen Fragen, und es geht um „typisch jüdische, typisch wienerisch-jüdische Fragen“: Wo man eigentlich zu Hause sei? Ob man sich als Israeli fühle? Wieso ein Israeli als Linker gelte, wenn er eine bestimmte Meinung vertrete, und ein Österreicher als Nazi, wenn er dieselbe äußere? Ob die ständige Erinnerung an die Vergangenheit nicht kontraproduktiv sei und nicht sogar die Gegenwart vergifte? Und schließlich: Was eigentlich Geschichte sei?

Zwischen all diesen politischen, historischen und philosophischen Diskursen beschäftigt Rudi Klausinger aber ein viel greifbareres Problem: Er ist auf der Suche nach seinem Vater. Seine Nachforschungen führen ihn an das Krankenbett Felix Rosens, der dringend eine neue Niere braucht. Ausgerechnet Rosen? Der Vater seines Kontrahenten in der tobenden Feuilleton-Debatte, der Vater seines Konkurrenten um die Stelle an der Wiener Universität – ausgerechnet der alte Rosen soll Rudis Vater, und Ethan Rosen damit Rudis Halbbruder sein? Als wäre diese Konstellation nicht schon abenteuerlich genug, taucht plötzlich ein offensichtlich verrückt gewordener Rabbi auf, der Ethan zu einer Samenspende überredet und ihm im Austausch eine neue Niere für den todkranken Felix Rosen verspricht. Der Rabbi ist überzeugt, dass der Messias bereits gezeugt war, aber 1942 noch ungeboren im Leib der Mutter von den Nationalsozialisten ermordet wurde. In Ethan vermutet der Rabbi einen entfernten Verwandten dieses in den Gaskammern getöteten Embryos, welcher nun mittels der DNA seiner direkten männlichen Nachfahren im Labor gezüchtet werden soll.

Spätestens hier droht die Geschichte ins Absurde zu kippen. Aus eben diesem Spiel mit den Erwartungen des Lesers, die dann eben doch nicht erfüllt werden, entsteht eine Spannung in „Andernorts“, die der eines Krimis gleicht. Denn natürlich ist Klausinger nicht der Halbbruder Ethan Rosens, natürlich kann der Messias nicht im Reagenzglas erschaffen werden und natürlich hält der Roman weitere überraschende Wendungen bereit. Mindestens ebenso spannend ist das Spiel, das der Text jenseits der Handlung mit allerlei vermeintlichen Gewissheiten seiner Leserschaft treibt und diese ironisch bricht.

Fast nebenbei wird der gesamte österreichische Universitätsbetrieb durch den Kakao gezogen. Und es ist sicherlich keine allzu gewagte Interpretation, die im Text gezeichneten Karikaturen – die von sehr merkwürdigen Berufungs- und Stellenbesetzungspraktiken über Importexportgeschäfte mit akademischen Ideen bis hin zu „trans“ und „inter“, den üblichen Titel-Gefährten einer jeden etwas auf sich haltenden kulturwissenschaftlichen Studie, reichen – auch auf die deutsche Universitätslandschaft zu beziehen.

Vor allem aber ist „Andernorts“ ein Generationenroman. Er erzählt von den Überlebenden, die der Vergangenheit nicht entkommen und „allmählich zu nichts als Erinnerung und Vergesslichkeit“ werden. Und er erzählt von den Nachkommen der Überlebenden, die mit dem „Niemals-vergessen!“ aufgewachsen sind und dem Erbe des Zivilisationsbruches genauso wenig entfliehen können.

Wie weiter leben? Diese Frage, vor die jede Generation neu gestellt wird, bildet den Fluchtpunkt des neuen Werkes Rabinovicis, das sich nur allzu Recht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis befindet. Die naturgemäß kontroverse und manchmal auch recht ratlos anmutende öffentliche Diskussion um den Umgang mit dem Gedenken ist um einen vielschichtigen und tiefgründigen Beitrag reicher. Zu wünschen bleibt dem Roman „Andernorts“, dass er die ihm gebührende Aufmerksamkeit erfahren wird.

Titelbild

Doron Rabinovici: Andernorts. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
285 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421758

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