Die Geburt der Freiheit aus der Gefangenschaft

Ein dokumentarischer Roman des ungarischen Autors István Örkény

Von Sabine MertenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Merten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich musste ein Gefangener werden, für lange Jahre, um zu lernen, dass Freiheit nicht die übermütige Ungebundenheit ist, für die ich sie gehalten habe“. Diese Stimme aus dem „Lagervolk“ des ungarischen Autors István Örkény umfasst quasi programmatisch das paradoxe Leitmotiv, das diesen Roman durchzieht – die Geburt der Freiheit aus der Gefangenschaft. Es geht dabei um die Gefangennahme jener Soldaten, die im ungarischen Armeekorps Anfang 1943 für die Wehrmacht an der Ostfront gekämpft und am Don eine verheerende Niederlage erlitten hatten. Die Vernichtung der Zweiten Ungarischen Armee bedeutete auf der einen Seite den Wendepunkt in der ungarischen Beteiligung am Zweiten Weltkrieg, auf der anderen Seite tragisches Leid für die Soldaten, denn wer überlebt hatte, kam in sowjetische Gefangenschaft. Dies betraf vor allem die 25.000 ungarischen Arbeitsdienstler, die schlecht ausgerüstet in den Krieg geschickt wurden. Der jüdisch-ungarische Schriftsteller Örkény war einer von jenen und musste mit vielen anderen Leidensgenossen ab 1943 im Lager Nr. 188 bei Tambow Rodungsarbeiten verrichten und absolvierte dabei die von der Sowjetunion initiierte „Antifaschistische Schule“.

Anders als bei „typischen“ Lagerromanen (etwa „Ein Tag aus dem Leben des Ivan Denissowisch von Alexander Solschenyzin) stehen im vorliegenden Buch nicht die Darstellung von Terror und Grausamkeit im Vordergrund, vielmehr geht es darum, das Thema Gefangenschaft und Freiheit unter verschiedenen Aspekten durchzudeklinieren und dabei philosophische, historische und soziale Fragen zu beleuchten. Das Buch bedeutet für Örkény, gleichsam den Schock zu kompensieren, den er erlitten hatte, als er abrupt aus dem Leben gerissen wurde und sich 4 Jahre lang in der totalen „tabula rasa“ des Gefangenenlagers wiederfand.

Der erste Teil des Buches, „Das Lagervolk“ erschien 1947 als Fortsetzungsroman in einer ungarischen Zeitschrift, der zweite Teil, die Protokolle der Gespräche mit Mitgefangenen wurden unter dem Titel „Woher wir kamen“ schon 1946 von der Ungarisch-Sowjetischen Gesellschaft für Bildung herausgegeben. Das zügige Erscheinen der Texte nach dem Krieg ist nicht so sehr künstlerisch als politisch-gesellschaftlich motiviert: Der Autor legt der lesenden Öffentlichkeit einen dokumentarischen Roman vor, der das Überleben in der Wirklichkeit des Lagers und des Krieges in einer frappierenden Unerschütterlichkeit zeigt. So gewinnt man den Eindruck, dass der Autor diese Phase der ungarischen Geschichte hauptsächlich unter dem Aspekt der Möglichkeiten einer historischen und sozialen Kontinuität zwischen Vor- und Nachkriegszeit betrachtet, in der der Tod keinen Platz mehr finden kann. Genau an diesem Punkt liegt aber auch die Problematik des Buches: Der Autor, selbst Jude, scheint über die Fragen des kollektiven Überlebens ganz den Tod, das heißt die Erwähnung des Holocaust und die Vernichtung eines ganz wesentlichen Teils der ungarischen Bevölkerung vergessen zu haben, was die erwähnte Kontinuität schlichtweg unmöglich macht.

Ein zentrales Anliegen des Autors ist es vielmehr, die Entfremdung des Menschen unter den Bedingungen des Verlustes von Familie und Heimat zu zeigen: Wie kann ein Mensch psychisch und physisch überleben, wenn er völlig fremdbestimmte Arbeit verrichten muss, die sein Denken und seinen Lebensrhythmus fundamental bestimmt? Wie kann er Hunger und Heimweh erleiden und dennoch seine Menschlichkeit behalten? Wie kann er vom Brotdieb im Lager zu einem moralisch integren Menschen werden?

Allerdings ist es – und dies ist ein bemerkenswerter Ansatz – nur eine Frage der Zeit, bis aus dem existenziellen Nichts und der Entmenschlichung die verschüttete Menschlichkeit wieder hervorkriecht und aus der kollektiven Sehnsucht, das Leben wiederzufinden und dem Tod entgegenzuwirken, ein dringendes kulturelles Bedürfnis hervorwächst. Damit entsteht eine Parallelwelt zum offiziellen Lagerleben, in der Kultur eine lebensspende Rolle spielt, und in der sich die Gefangenen aus dem kulturellen Gedächtnis heraus gegenseitig Theaterstücke, Konzerte und Lesungen vorspielen. Aus den Hungerkünstlern werden tatsächliche Künstler, wobei diese Verwandlung durchaus absurde Züge trägt: Denn aufgrund ihrer Isolation im Lager bewegen sich die Gefangenen wie in einer Raum- und Zeitkapsel, sie leben und leben doch nicht, da es im Grunde keine Gegenwart gibt, sondern nur ein Existieren auf den Punkt ihrer Freilassung hin, einen allerdings zeitlich sehr unbestimmten und im Grunde unvorstellbaren Zeitpunkt.

Ein Minimum an Individualität wird auch dann sichtbar, als sich nach einigen Jahren Lagerleben ein regelrechter Mikrokosmos an Handelsstrukturen, Arbeitsteilung und Berufsfeldern herausbildet, in denen sich die Geschicktesten unter den Gefangenen profilieren können. In dieser Parallelwelt sind alle Hierarchien, die das Leben vor dem Krieg geprägt hatten, völlig aufgehoben, da das Unterste nach oben gekehrt wurde und damit – je nach Perspektive – eine „verkehrte Welt“ beziehungsweise die Neuordnung des Sozialgefüges herrscht. Es ist eine Neuordnung, die sich aus der zufälligen und willkürlichen Zusammensetzung von Menschen herauskristallisiert, die adeliger, bäuerlicher oder auch bürgerlicher Herkunft sind, und die sich nun aufgrund ihrer Überlebensstrategien einen Platz im Lager behaupten müssen: „Herren, Knechte, Ritter, Bauern und Kuriere; die Gesellschaft der Lager steht vor uns wie die Figuren auf dem Schachbrett“.

Die Aufzeichnungen Örkénys sind vor allem aus einem Impuls der Wahrhaftigkeit heraus entstanden. Noch während der Gefangenschaft notiert er, „mit einem Bleistiftstummel auf Tabaktüten“ die Lebens- und Leidensgeschichten seiner Lagergefährten und erweckt damit – freilich stilistisch geglättet – einen vielstimmigen „Gefangenenchor“ zum Leben: „Sowohl bei der Armee als auch in der Gefangenschaft kommt man mit unzähligen fremden Menschen in Berührung, die einander nie zuvor begegnet sind. Das wird für sie zum Anlasse, sich ihre Geschichten zu erzählen. Die Kriegsgefangenschaft ist die Zeit der großen Erzählungen, Ihre Erinnerungen an die Vergangenheit brechen hervor, als öffnete sich eine Schleuse. Die Menschen haben das Gefühl, ihre Gegenwart aus der Vergangenheit heraus erklären zu können“.

Die Entstehung dieses Buches erklärt sich also weitgehend durch den Impuls des Autors, in der Erinnerung des Einzelnen die kollektive Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen: „Es war dieses Buch, in dem ich die Welt vermessen habe, in der ich fortan leben sollt. Bevölkert von Menschen, die ich kennengelernt habe und mit denen ich würde leben müssen und die ich als meine künftigen Gefährten begreifen musste“. Und so sammelt er die Lebensgeschichten seiner Mitgefangenen, aus denen man sich sehr klar und plastisch nicht nur ein Bild des Krieges, sonder auch eines vom Vorkriegsungarn in all seinen Facetten machen und den unheilvollen Weg Ungarns von der Vorkriegszeit direkt ins faschistische Horthy-Regimes nachvollziehen kann. Die Frage der Minderheiten, der wachsende Antisemitismus, der erbitterte Kampf zwischen Kommunisten und Faschisten, die eklatanten sozialen Unterschiede zwischen Bauern, Intellektuellen, Klein- und Großbürgertum sowie die Armut und der ständige Überlebenskampf der Arbeiter – die Lebensgeschichten der einzelnen Gefangenen sind jeweils für sich schon kleine Romane, so plastisch, bisweilen komisch, tragisch und auch historisch relevant stellen sie sich dar. In ihrer Gesamtheit aber verweben sie sich zu einer einzigen, vielstimmigen und -schichtigen Erzählung über das (künftige) ungarische Volk, dem – trotz aller sozialen Unterschiede – etwas Gemeinsames anhaftet: Die Hoffnung auf ein besseres Leben in einem besseren System nach dem Krieg. Dass diese neue Gesellschaft dann aber gezwungen war, alle, angefangen vom Pfeilkreuzler und bis hin zum Kommunisten, zu integrieren und dass dies nicht gelang, man denke an die großen politischen Säuberungen im Ungarn der 1950er-Jahre und Rákosi, steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Örkény nimmt im Grunde eine sehr ambivalente Haltung zum Thema Gefangenschaft ein: er schwankt zwischen Anklage und Sinngebung, zwischen Verurteilung und Überhöhung: „Die Kriegsgefangenenschaft stellt einen bitter auf die Probe, menschlich, moralisch, in seiner Leidensfähigkeit. Wer sie erlebt hat, hat lernen müssen, an die formende Kraft des Leidens zu glauben. Für den, der sie überlebt hat, waren Hunger, Heimweh und Typhus keine vergebliche Prüfung. […] Gerechtigkeit gab es noch nie umsonst. Sie musste seit Menschengedenken leidvoll erkämpft werden“. Dass ohne Krieg kein gerechtes politisches System möglich sei, ist wohl eine streitbare historische These. Gewiss ist allerdings, dass nicht nur für die ungarische, sondern auch für die ganze europäische Geschichte dieses Buch ein äußerst lesenwertes Dokument ist, das definitiv hohe literarische Qualitäten besitzt. Selten wird „Geschichte von unten“ so plastisch und literarisch erzählt. Ergänzt wird der Band durch ein faktenreiches Glossar und einen Essay des Übersetzers, ein kurzes, kritisches Nachwort von Imre Kertesz und mehrere Zeitdokumente aus den 1940er-Jahren, die die nicht unumstrittene zeitgenössische Rezeption der Aufzeichnungen beleuchten.

Örkény selbst avancierte, trotz des zeitweiligen Schreibverbots in Ungarn, nach dem Zweiten. Weltkrieg zu einem der bedeutendesten ungarischen Dramatiker der Nachkriegsliteratur. Er schuf vor allem mit den sogenannten Minutennovellen einen Klassiker der absurden Literatur. 1979 ist er in Budapest gestorben.

Titelbild

István Örkény: Das Lagervolk. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Laszlo Kornitzer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
383 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783518420799

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