Gert Mattenklott als Porträtautor

Eine Erinnerung zum ersten Todestag des Literaturwissenschaftlers und Essayisten

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Biografische Denk- und Schreibformen schienen in der Literaturwissenschaft lange Zeit erledigt, nahezu Tabu. Die literaturtheoretischen Paradigmen seit den 1950er-Jahren ließen für die Frage nach den Lebensvollzügen hinter oder neben den Werken wenig Raum. Von der immanenten Interpretation oder den verschiedenen Versionen des Neomarxismus und der Sozialgeschichte über die Subjektkritiken von Strukturalismus, Dekonstruktion, Diskursanalyse bis zur Mediengeschichte – für die Individuen, die Werke schufen und ihr Leben lebten oder gestalteten, sollte man sich nicht interessieren. Das Leben war eine no-go-area für Wissenschaftler. Szientifische Verbotsschilder aus allen Theorieschulen untersagten den Zutritt. Eine Ausnahme bildeten hier bestenfalls Spielarten psychoanalytischer oder psychologisierender Literaturwissenschaft. Über die Hintertür von Werkmonografien, die nach dem Zusammenhang im Œuvre eines Autors fragten und die in allen genannten Schulen geduldet waren, schlichen sich Aspekte des Lebens und seiner Performanz, der Autorindividualität und seiner Subjektivität natürlich ständig durch die Hintertür in Arbeiten der Literaturwissenschaftler.

Seit einigen Jahren scheint dieses Tabu unter akademischen Literaturwissenschaftlern seine Bannkraft einzubüßen. Man denke etwa an die Shakespeare-Biografie von Stephen Greenblatt, an Nicholas Boyles Goethe-Biografie, Hugh Barr Nisbets „Lessing“ oder an die monumentalen Biografien von Peter André Alt zu Schiller und zu Kafka; über den ja lange schon und weiterhin biografisch publiziert wird, neben Alt etwa von Thomas Anz, Rainer Stach und vielen andern. Und es werden nicht mehr einfach nur Biografien geschrieben, auch die literaturwissenschaftliche und interdisziplinäre Erforschung der Biografik hat in den letzten beiden Dekaden einen Aufschwung erlebt. Ein Beleg unter vielen hierfür ist etwa das 2009 publizierte „Handbuch Biografie“ des Metzler Verlags. Sein Herausgeber, Christian Klein, promovierte mit einer Biografie über Ernst Penzoldt bei Gert Mattenklott – und hat neben der Biografie und dem vorzüglichen Handbuch noch weitere Arbeiten zur Biografie- und Sachbuchforschung herausgegeben.

Gert Mattenklott hatte die akademischen Verbotsschilder, die den Zugang zum Leben versperren sollten, kaum je beachtet. Nicht im Falle der Biografie und auch nicht, was andere Tabu-Zonen betrifft: etwa das Ich-Sagen, das Interesse für Gegenwartsliteratur und lebende Autoren, die er regelmäßig als Poetik-Gastprofessoren in die Universität rief, die frühe und nicht nur theoretische Offenheit für Gender-Fragen in allen denkbaren Varianten, den Mut zu kunstkomparatistischen Versuchen über Opern, Musik, Gartenkunst und Performances.

Sein unverstelltes Interesse für die Lebensschreibkunst überraschte – auf den ersten Blick – in mehrfacher Hinsicht. War Mattenklott nicht der erste immatrikulierte Student der von Peter Szondi begründeten Berliner Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und mithin jener Theoriehochburg, die seit den 1960er-Jahren für die literaturwissenschaftliche Fruchtbarmachung von raffinierter Hermeneutik, Marxismus, neuer französischer Psychoanalyse und Dekonstruktion sorgte? Doch, er war in diese Schule gegangen. Er kannte sich mit den zeitgenössischen, subjektkritischen Theorien aus und ließ sich nach gut 20 Jahren auf dem Marburger Lehrstuhl für Germanistik Mitte der 1990er-Jahre auch sehr gerne in die Komparatistik der FU Berlin zurückberufen. Doch weder das Szondi-Institut (für dessen Benennung nach seinem Gründer Mattenklott sorgte), noch sein eigener Neomarxismus im Frühwerk, noch seine immer schon vorhandene Begeisterung für Formen, ja für den Ästhetizismus, beschnitten seine Aufmerksamkeit für das bunte oder wunde Leben, für die Individuen und ihre geschichtsgeprägten Lebensläufe.

Mattenklott hat sich schreibend und redend immer wieder in biographischen Formaten geäußert. Neben etwa zwei Dutzend umfangreicheren Lexikonbeiträgen zu Goethe, Schiller und Lessing (in der „Enciclopedia Europea“ 1977 ff.) sowie vor allem zu deutsch-jüdischen Essayisten und Dichtern in Killys „Literaturlexikon“ und in Julius H. Schoeps’ „Neues Lexikon des Judentums“ stehen etwa 30 essayistische Porträts, publiziert in Zeitschriften, Zeitungen und Katalogen, als Nachworte sowie in akademischen Sammelbänden. Welch empathisch scharfsinniger Blick erschloss hier Lebens- und Geschichtszusammenhänge; wie kenntnisreich, pointiert und plastisch erhellte Mattenklott in diesem Genre den lebensweltlichen, kulturellen oder nicht selten subkulturellen Rahmen von Denkern, Künstlern und Kunstwerken.

Die methodischen und ideologischen Vorbehalte gegen biografistische Literaturinterpretation und gegen die soziale Funktion der ‚biografischen Mode‘ (so schon Siegfried Kracauer und Leo Löwenthal) waren ihm natürlich bekannt. Er selbst begann seine Arbeit am Bilde bedeutender Menschen gleichsam mit der ideologiekritischen Abrissbirne. In seiner Habilitationsschrift „Bilderdienst“ analysierte er den Personenkult um Stefan George als Form der Produktreklame und zeigte die sozio-ökonomischen Bedingungen der Produktion des Meisters und seines Kreises auf.

Später bewunderte er in seinem Porträt Elias Canettis die freihändig undogmatische Charakterisierungskunst, die dessen Werke auszeichne: „So wenig wie im Dienst von Psychologie steht deren Logik im Gehorsam einer der anderen großen Ideologien der Zeit, der Soziologie nicht und auch keiner der philosophischen Doktrinen.“ Die vielen Porträtessays, die Mattenklott seit etwa 1980 erarbeitete, sind weniger kritische Demontagen als würdigende Hommagen.

Doch hält Mattenklott auch hier Einwände gegen die sprachlichen Identitätsfixierungen präsent. In seinem Essay „Lichtenberg als Charakterologe“ notiert er, wie der Aufklärer Gefahren des Porträtierens durch anmaßende Rhetorik und Stilisierungen kritisiert: „Die ,Macht des Witzes über die Meinung‘ nennt er eine der Ursachen für die Entstellung der menschlichen Natur in der Charakterkunde aller Zeiten, meist selbst die Folge einer Erhebung des Schriftstellers über die Personen, die er schildern will. Wo er in der Natur auf eine individuelle Mischung in der Zusammensetzung von Tugenden und Lastern treffe, da konstruiere der Witzige erkünstelte Oppositionen und erfinde mechanische Beziehungen, die ihre einzige Wirklichkeit im Hirn des Schreibers selbst haben.“

Die Hinwendung zu den Personen, den Einzelnen und Besonderen und den je individuellen Wegen ihres Lebens und Wirkens war ihm wenn nicht Fluchtlinie so doch notwendiges Komplement zum eigenen sozialhistorischen Projekt der ‚Literatur im historischen Prozess‘, wie eine von ihm und Klaus Scherpe initiierte, seit den 1970er-Jahren wirkmächtige Publikationsreihe hieß. Auch schon in diesem Rahmen ging es Mattenklott, etwa in Essays zu Friedrich Nietzsche als Kulturrevolutionär oder zum subjektiven Faktor in Musils „Törless“ allemal um mehr, um Sinnlicheres und Persönlicheres als bloß die Verrechnung von Literatur auf Klassen. In den frühen 1980er-Jahren folgte die eingehende Beschäftigung mit Theorien der Physiognomie und dem Genre der Charakteressays von Theophrast über La Bruyère bis zu Lavater, Kassner und Klages.

Seine unter dem Titel „Blindgänger“ publizierten ‚physiognomischen Essais‘ waren sich nur zu bewusst, dass das moderne Großstadtleben Charaktere, wie sie das Personal von Molières Komödien oder moralistischen Büchern darstellten, abschleift bis zur Eigenschaftslosigkeit. Diese historisch bedingte Charakterauflösung, den Identitätsverlust vermag Mattenklott freilich in seiner bedrohlich belastenden wie in seiner produktiv genussreichen Variante zu beschreiben: „So ist die charakterliche Indifferenz in den großen Städten ein Produkt der Entfremdung und Anlaß für vielfältige Leiden; ist sie ein Zustand, in dem die Schwere des bloßen Daseins als Last erfahren wird. Sie ist aber zweifelsfrei auch ein euphorischer Zustand, den das Subjekt als Entlastung erfährt und dem es gar eigene und neue Formen von Produktivität abgewinnen kann (ohne daß damit Produktivität als Norm generell akzeptiert wäre.) Sie ist ein Produkt von Kapitalisierung, Industriegesellschaft, Verstädterung und Demokratie. Sie wird aber im selben Atemzug als eine Gestalt des vielfältigen Lebens erfahren. Ergebnis eines Prozesses, der ohne Lebensverlust nicht ohne weiteres umkehrbar ist.“

Statt eines nahe liegenden bloßen kulturkritischen Lamentos über Nivellierung und Entfremdung notiert unser Autor auch die Freiheits- und Individualitätsgewinne. Identitätsforderungen können ja auch etwas überaus Belastendes sein, wie Mattenklott an anderer Stelle, in einem seiner ersten Porträt-Essays, aus Anlass des 100. Geburtstags von Alfred Döblin, notierte: „Die Gewährsmänner seines Werks, in dem artistische, politische und religiöse Impulse gleich heftig wirksam sind, waren abwechselnd Marinetti, Marx und Kierkegaard. Unter allen Zwängen scheint diesem Autor der zu einer soliden Identität der lästigste gewesen zu sein.“ Das „Blindgänger“-Buch umfasste, neben den wundervoll originellen Essays über Leidenschaft, Faulheit, Epigonalität, Langsamkeit und Albernheit zudem zwei Exkurse, die pointiert entscheidende Konversionen in den Biografien von Gustav Theodor Fechner und George Lukács ausloten.

Mattenklotts Editionen und Studien zu den Kunst- und Kommunikationsformen des Briefs waren gleichfalls gekennzeichnet durch seine feinsinnigen Erkundungen der Relationen von individuellem und gesellschaftlichen Leben, von den Formen ihrer Versprachlichung und von Funktionsbestimmungen der lebensweltlichen und literarischen Gestaltung. So entwirft er Porträts, etwa von Gustav Landauer oder Walter Benjamin aus ihren Briefen. In seinen letzten Jahren schrieb er, in Fortsetzung seiner Monografie „Über Juden in Deutschland“ eindringliche, sozialpsychologisch gehaltvolle Charakterstudien zu Käte Hamburger, Erich Auerbach oder Ernst Cassirer, jeweils profiliert „im Kontext ihrer deutsch-jüdischen Verhältnisse“. Lange schon plante er, eine Biografie Walther Rathenaus zu verfassen und damit das von ihm so virtuos beherrschte Genre des kleinen Porträtessays im größeren Rahmen durchzuführen. Der Ausführung dieses Plans kamen Krankheit und Tod in die Quere – wie so vielen anderen Plänen: etwa der Buchpublikation seiner Vorlesungen über die Odysseen im 20. Jahrhundert oder der schon in Marburger Zeiten legendären Vorlesung zur Geschichte des Romans.

In seinem Aufsatz über „Goethe als Physiognomiker“ erörtert er Goethes Vorbehalte gegen Lavater, doch auch die Aneignung physiognomischer Deutungskunst, die Mattenklott selbst seit der George-Arbeit und verstärkt in vielen Studien der 1980er-Jahre beschäftigte. Goethes Auffassung der Gestalt als temporalisierte Äußerungsform des Lebens begriff er als ein Plädoyer für die Vermittlungen, für die Umwege und Oberflächen als notwendige und wesentliche Erscheinungen eines unmittelbar nicht zu habenden Wesens: „Die Hülle ist epidermis und als solche die stationäre Form, in der die Lebenstätigkeit an die Oberfläche tritt. Dauer ist ihr nicht beschieden. Das Leben geht durch sie hindurch wie die Natur durch die Kunstformen. Aber zum Erscheinen kommt das Leben auch nicht anders als in der Form der Verhülltheit. Unmittelbar kann es seine produzierende Energie nicht äußern“.

Mattenklott wusste mithin von den Hüllen und Gestalten, die sich wandeln mögen und doch essentielle Tatsachen des Lebens sind. Doch lähmte ihn dieses Wissen um die Oberflächen und Abgründe des Porträtierens keineswegs. Schließlich trieben es viele der literarischen und philologischen Favoriten, die er porträtierte, selbst. Von Lessing und Goethe über Benjamin, Adorno, Gundolf und Kommerell, bis zu Hofmannsthal und Canetti – sie alles wirkten auch als Porträt-Autoren. So fühlte er sich als Porträtist wohl in guter Gesellschaft. Andere von Mattenklott Porträtierte, wie Gustav Theodor Fechner, Gertrud Kolmar oder Rolf Dieter Brinkmann, wie Jan Fabre oder Majakowskij teilten diese Leidenschaft für Charakterstudien – meines Wissens – weniger.

Den Impuls, die Grenze zwischen Kunst und Leben nicht als absolute oder unüberwindbare gelten zu lassen, teilte Mattenklott mit den ästhetischen Avantgarden. Deren oft gewalttätiger Gestus der Formauflösung und Traditionsvernichtung, der ihn als Historiker allemal interessierte, lag ihm persönlich allerdings fern. Näher war ihm hier das neukantianische, besonders durch Cassirers Philosophie symbolischer Formen vermittelte Bewusstsein der epistemischen wie zivilgesellschaftlichen Notwendigkeit von Formen – zudem der Goethesche Sinn für die zarte Empirie des Besonderen und die wandlungsreichen Formen des Lebendigen.

Bei einem seiner Vorgänger auf dem Marburger Lehrstuhl, Max Kommerell, den Mattenklott 1985 portraitierte, entdeckte er eine Leidenschaft für das Leben und seine sprachliche Erschließung, die ihm gewiss nicht fremd war: „Soviel bleibt immer klar, daß höher als jede Kunstnorm, weiter als alle Disziplin einer Wissenschaft, lebensnotwendiger als praktisches Tun oder Lassen Versprachlichung ihm als das Ursprungselement gilt, aus dem er sich erst selbst gewinnen kann und muß […]. Denn wo das Leben und die Sprache, die Seele und die Formen derart unentrinnbar einander entströmen, bedeutet die Mannigfaltigkeit der Schreibformen ein Erschließen der vielfältigen Charaktere des Lebens in allen seinen Zungen.“ Rühmt Mattenklott am Marburger Amtsvorgänger, der dem George-Kreis entsprungen war, „die Lust an der poetischen Vergegenwärtigung des Augenblicks, in dem der Lebensstoff sich in Sprache verwandelt; chimärische Momente, an denen beide Sphären, Leben und Geist, noch ihren Anteil wahren“ als Signum insbesondere von Kommerells Briefschaft, so kennzeichnet diese sprachlich-alchemistische Katalyse von Leben und Werk wiederum seine eigene Kunst des Porträts.

Die Sprache als Eros und Energeia, als Produktiv- und Formkraft, dieses Lebensthema des Literaturwissenschaftlers erörterte Mattenklott in seinem Kommerell-Porträt als Motiv– und führte es zugleich in seinen eigenen Begriffsfindungen sprachlich vor: „Wortemachen ist für diesen Mann eine Lebensfunktion gewesen, wie für andere die Ernährung, Geschlechtlichkeit oder Schlaf; keine unwillkürliche freilich, sondern ein Vermögen der geistigen Selbstbestimmung.“ Der ‚Lebenssinn der Dichtung‘ und das Schreiben als symbolische Handlung seien die Anliegen Kommerells gewesen. „Den Werken ihre Erfahrungen abzulocken dient alle Philologie – nie ein Selbstzweck –, diese Erfahrungen ,nachzustammeln‘ seine Schreibkunst.“

Schwer zu sagen, inwieweit sich Mattenklott 1985 auch in den folgenden, fabelhaft formulierten Charakterisierungen von Kommerells Leben und Schreiben selbst wiederfand: „Immenser Fleiß und hartnäckige Selbstdisziplin eines, der so gern gesellig lebte und reich begabt für Freundschaften war, der zwei Ehen geführt hat und Kinder hatte, sind ihre äußeren Bedingungen – keine leicht zu leistenden. Für die intelligible innere Voraussetzung dieses Mannes entscheidend scheinen mir noch andere gewesen zu sein. Im Schreiben hat er um 1930 endlich den ihm gemäßen Weg ins Leben gefunden, den jeder für sich selbst erst entdecken muß: der eine im geliebten Du, ein anderer in der Geselligkeit oder einer Gefolgschaft wer weiß zu welchen Zielen, wieder einer in kontemplativer Vereinsamung. Kommerell hat diese Wege alle gekannt, und er hat sie, so gut er vermochte, versucht. Es hat für ihn aber nur eine Lebensweise gegeben, die dieses Versuchen selbst zur Form hat, ohne die Verantwortung für andere Menschen zu tragen, die er George mißbrauchen sah: die essayistische; buchstäblich das Essay-Schreiben.“

Der Essay, speziell das Porträt, war wohl auch ihm die liebste und gemäße Form. Und gewiss kannte und kostete er, dessen Email-Adresse endete auf @umwege.in-berlin.de, mannigfaltige Wege in und durch das Leben. Staunenswert erschien vielen, die ihn kannten, sein Pensum an Reisen und Vorträgen, an Publikationen, auch an Gutachten und Verwaltungsaufgaben, denen er sich in den späten Berliner Jahren als erfolgreicher Wissenschaftsorganisator an der FU keineswegs entzog. Er kam mit wenig Schlaf aus. In seinem frühen Porträt Döblins erinnert ein Satz ineins an seinen Schreiber, der trotz aller Reisen und Gastdozenturen, auch während der Marburger Jahre pendelnd, Berlin lebenslang treu blieb: „Wohl möglich, daß der Treibstoff des urbanen Milieus in ihm jene Lebensgeschwindigkeit gefördert hat, mit dem er drei Leben zugleich führt und vielleicht ein weiteres antizipiert und verwirft, wo andere mit Mühe sich zu einem durchringen.“

Die Suche der einen Identität oder das Zulassen der vielen, das Leben mit wechselnden Präferenzen, mit Konversionen und Verrat (dem einer seiner letzten Essays galt), die multiplen Züge des Begehrens als Last oder als Lust, dieses Lebensthema umkreisen viele seiner Porträts. Klaus Manns Leben und Werk verorteten schon Hans Mayer und Friedrich Sieburg angelegt in der Spannung zwischen erotisch-ästhetischen Sehnsüchten und moralisch-politischem Verantwortungsgefühl. Gert Mattenklott forciert deren Charakterisierung Klaus Manns und erkennt eine Nicht-Identität noch in seinen jeweiligen Spannungspolen: „Es ist in Wahrheit noch komplizierter. Auch zwischen Stühlen läßt sich bekanntlich noch sitzen. Die schriftstellerische und Lebensproblematik Klaus Manns scheint aber daher zu rühren, daß er nicht nur zwischen Eros und Moral, Ästhetik und Politik keinen festen Ort zu finden vermochte, sondern instabil blieb er auch als Erotiker und Ästhet, Moralist und Politiker. Weder hat er als Homosexueller seinen Frieden machen können mit den Angeboten einer auch seinerzeit schon stark kommerzialisierten Subkultur oder in der albernen Anpassung an die Lebensform der sexuellen Orthodoxie, noch ist es ihm gelungen, heimisch zu werden in einer der prominenten politischen Ideologien seiner Zeit.“

In seinem Porträt Majakowskijs unterstrich Mattenklott die ihm wichtige Engführung von politischem Engagement und ästhetischer Einbildungskraft, die ohne Eigensinn und Individualität nicht auskommen kann: „Bevor Majakowskij zum ersten und größten Dichter der Oktoberrevolution werden konnte, hatte er schon gelernt, ‚ich‘ zu sagen.“ Engagierte Literatur ohne Formbewusstsein und ohne das anarchisch-monarchische Potential künstlerischer Kreativität war Mattenklott stets suspekt – oder schlicht zu langweilig. „An entschiedener Parteilichkeit ist also kein Zweifel. Entscheidend für das Gelingen des Werks aber ist, daß Kollektivität, Arbeit und Disziplin von einem gefordert werden und geleistet, der eine starke Individualität und eine starke Inspiration hat und eine Fantasie, die immer wieder kühner ist als die der Politiker, denen Majakowskijs Unersättlichkeit unheimlich war.“

Dass ihm der bloße, narzisstische Eigensinn des Ästheten vielleicht noch als künstlerische Produktivkraft respektabel, doch als Lebensentwurf ungenügend erschien, formulierte Mattenklott in seinem Nachwort zu einer von ihm edierten Auswahl aus den Tagebüchern August von Platens. Diesen porträtierte er als einen Melancholiker, dessen hypertrophes Formbewusstsein das Leben vernichte zugunsten erstarrter Gestalten: „Platen war sein Ich nicht zum Aushalten. So floh er bis zu den Grenzen seiner geistigen Welt und fand doch nur wieder – sich selbst. Einen anderen Maßstab als diesen prekären hatte er nicht; auch keine Sehnsucht, die auf Grundverschiedenes gegangen wäre. Um ein Ziel vor Augen zu haben, mußte er sich selbst verdoppeln und das alter ego fernstellen. So entwarf er sich antikisierend, empfindsam, bildungsfromm, liebestoll, immer weltendurstig und doch selbst so strikt im Wege, daß es lebenslang bei der Anstrengung des Aufbruchs bleib. […] Der narzisstische Charakter seines Verhältnisses zur Wirklichkeit zeigt sich in der peinvollen Beschränktheit seiner Wahrnehmung auf Reisen. Deren Passepartout ist einzig und allein für Kunstschätze geeignet oder für junge Männer, die er wie jene ansieht.“

Zwar verstarb auch Max Kommerell jung, doch skizzierte Mattenklott seine offene Haltung zur Welt und zu anderen Charakteren gleichsam als Gegenpol zu Platens Fixierung aufs eigene Ich: „Wie eng bei Kommerell der Selbstgewinn sich mit der Profilierung von ihm Fremden verbindet, lassen seine Schiller-Studien schön erkennen.“ Beiden attestierte unser Porträtist übrigens, dass sie von zartester seelischer und physischer Konstitution waren. Auch dies traf wohl auf ihn selbst zu, der ein geübter Patient war und doch trotz lebenslanger Heimsuchungen durch Krankheiten ein bewundernswert breites Œuvre schuf. Literaturwissenschaftliche Aufsätze zur Kunstepoche der Goethezeit einerseits und zur Jahrhundertwende andererseits markieren Forschungsschwerpunkte in den kanonischen Bereichen der deutschen Literatur. Neben Goethe, dem Mattenklott ein gutes Dutzend seiner Arbeiten widmete, darunter seine großen Beiträge zum Goethe-Handbuch über „Werther“ und „Faust II“, neben Benjamin, Adorno, Szondi, Warburg und Cassirer zählte der revolutionäre Freidenker und Stilist Nietzsche zum Kanon der immer Wiedergelesenen und essayistisch Umkreisten. Gert Mattenklotts Gelehrten-Nachlass wurde von Gundel Mattenklott dem deutschen Literaturarchiv Marbach gestiftet. Die Materialien umfassen Manuskripte (Prosa, Notizbücher, Vorlesungen), Korrespondenzen (mit Durs Grünbein, Hans Robert Jauß, Eberhard Lämmert, Gershom Scholem und vielen anderen) sowie Materialsammlungen etwa zur jüdischen Literatur und zur Exilliteratur. Ferner befinden sich in seinem Nachlass Prosa, Notizen, Gutachten und Korrespondenzen seines Lehrers Peter Szondi.

Ein Kanon, dem der promiske Gelehrte freilich ungeniert einen sehr weiten Kreis nicht-kanonischer, wechselnder Vorlieben und Lektürestrecken zur Seite stellte. Deutsch-Jüdische Geistesgeschichte und Berliner Literatur- und Biotopgeschichte erkundete er in Gestalt von Porträt-Vignetten doch auch im größeren Format als Buchautor. Für einige Jahre fungierte er als Herausgeber und Kolumnist der essayistisch weit ausgreifenden Architekturzeitschrift „Daidalos“; in den letzten Jahren war er Mitherausgeber der Hanns Eisler Gesamtausgabe, nachdem er zuvor schon, gemeinsam mit seiner Frau Gundel Mattenklott, eine Georg Hermann Werkausgabe betreute. Immer wieder schrieb er über das Reisen als Erfahrungsform. Die Themen der von ihm mit etablierten und betreuten Graduiertenkollegs deuten die Weite seines wissenschaftlichen Horizonts an: „Körperinszenierungen“ sowie anschließend „Inter Art Studies“ an der FU Berlin; „Makom. Ort und Orte im Judentum“ an der Universität Potsdam schließlich „Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozesses“ an der Universität der Künste Berlin. Die transdisziplinäre Erforschung der ästhetischen Erfahrungen in und zwischen den verschiedenen Künsten war ihm spätestens seit der frühen Habilitationsschrift ein Leitmotiv. Ganz folgerichtig gehörte Mattenklott 30 Jahre später zu den Initiatoren und Zugpferden des Sonderforschungsbereichs „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“, der an der FU Berlin seit 2003 sehr erfolgreich arbeitet. Die Versprachlichung ästhetischer Erfahrungen, das Zusammenspiel verbaler, imaginärer und sinnlicher Kräfte bei der Produktion und Rezeption von Kunst (aber auch von Wissenschaft) war hier ein Brennpunkt seiner kaum je ermüdenden Neugier.

Das Interesse an Individuen, am Besonderen und Abweichenden, an Grenzgängern und ihren Umwegen schien für Mattenklott stets wichtiger als die Hingabe an fixe Ideen oder große Theorien. Einen Club bunter Vögel und originell-innovativer Wissenschaftler(innen) stellte dann auch sein Doktorandencolloquium dar. Seine Praxis war alles andere als die Einschwörung auf orthodoxe Positionen – oder die eines charismatischen Meisters. Urbanität und Witz, klassische Lesererfahrungen und subkulturelle Lebenserfahrungen, Weltoffenheit sowie die Ausdauer und Genauigkeit des Archivsuchers und Editors begegneten einander hier in einem Kreis von Individualisten, der die buntschillernde Identität des Lehrers in ihren Facetten verkörperte. Auch biografisch orientierte Dissertationen, etwa aus dem Bereich deutsch-jüdischer Geistesgeschichte oder subkultureller und homoerotischer Studien wurden hier verhandelt.

Zwei neu erschienene Bücher versammeln einige seiner teilweise schwer zugänglichen Studien und Essays. Dirck Linck hat unter dem Titel „Ästhetische Opposition“ einen souveränen Querschnitt durch Gert Mattenklotts Interessen und Schreibformate gezogen und ein überzeugendes Nachwort im Stil eines persönlichen Porträts beigefügt, das Mattenklotts Kunst des Porträts und der geschliffenen Formulierung ebenbürtig ist. Dino Heicker hat im Parthas Verlag eine Auswahl aus den Schriften zur bildenden Kunst und zur Gartenkunst versammelt, die den versierten Kunstkomparatisten Mattenklott im Umgang mit nicht-sprachlichen Künsten zeigen.

Als Kunst des Porträts kann man die Versuche geistiger Physiognomien oder biografischer Vignetten bezeichnen, in denen Mattenklott sich als wahrer Meister zeigte, weil die Sensibilität des Wahrnehmens wie das Finden der Form, über alles Versammeln von Lebens- und Werkfakten hinaus, auch eine künstlerische Tätigkeit ist. Takt, Einbildungskraft und ein nuancenreich temperiertes Sprachvermögen prägen seine Porträtistik. Eines seiner letzten Porträts gestaltete er anlässlich des 100. Geburtstags von Adorno, den er nicht als Oberhaupt einer Frankfurter Schule auffasste, sondern als großen Solisten und als Vertrauten schöpferischer Künstler: „Will man überhaupt den Begriff der Solidarität, dieser Devise aus dem Urgestein bürgerlicher Sozialethik, für irgend einen Punkt von Persönlichkeit und Werk Adornos gelten lassen, so käme sie in seiner Verbundenheit mit den großen Individualisten der Kunstavantgarden zum Ausdruck, denen der wohl bedeutendste Teil seines Œuvres gewidmet ist. […] Nicht nur als Ästhetiker ist Adorno Confident der Künstler, mit deren Erfindungskraft und Nonkonformismus, hingebungsvoller Sachlichkeit und ausdruckshaftem Pathos sein solistischer Essayismus wetteifert. Stets übernimmt darin die persönliche Stimme eine wesentliche Rolle. […] Adorno ist in der Tat kein Schüler irgendeiner philosophischen oder kulturtheoretischen Formation, und er hat seinerseits auch keine Schule begründet. Die so genannte Frankfurter Schule ist heute im Wesentlichen eine selbsternannte Gruppierung Leid tragend Hinterbliebener. Lebensweltliche Erfahrung, minoritär pointierte Bildung und Anspruch auf moralische Kompetenz lassen sich so wenig weiterreichen wie künstlerisches Vermögen und die Kraft philosophisch-wissenschaftlicher Begriffsbildung.“

Wie Mattenklott hier den Denker des Nicht-Identischen und der negativen Dialektik verstanden wissen möchte, das dürfen wir wohl als Kern seiner eigenen Portraitistik und seiner Lehre begreifen: Klassische Bildung und subkulturelle Neugier versammelt zur Aufklärung der Lebens- und Kunsterfahrungen von Individuen. Mit Mut zum essayistischen Solo und zur individuellen Stimme. Mit hingebungsvoller Sachlichkeit.