Bedeutungsknoten

Claudia Benthien und Ortrud Gutjahr lassen die Beitragenden eines Sammelbandes den Zusammenhang von Interkulturalität und Gender in Sachen „Tabu“ erörtern.

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tabu werden die Themen genannt, die gerade besonders heftig, kontrovers und selten auf hohem Niveau diskutiert werden. Ein weiteres Merkmal tabuisierter Themen besteht darin, dass alle unbedingt und ganz bedenkenlos ihre ganz persönliche Meinung dazu kundtun wollen. So könnte man zumindest meinen, wenn man die entsprechenden Diskussionen in so einigen Printmedien, Fernsehsendungen und Hörfunkprogrammen verfolgt.

Bekanntlich bezeichnet der Begriff jedoch nicht nur in seiner ursprünglichen Bedeutung, sondern auch in seiner Übertragung in ,westliche‘ Kulturen etwas ganz anderes. „Westlich“, das heißt in diesem Falle zunächst einmal insbesondere „wienerisch“. Denn es war kein anderer als der bekannte Wiener Seelendoktor Sigmund Freud, der den Ausdruck als Terminus in den hiesigen (Wissenschafts-)Diskurs einführte und mit seinem Buch „Totem und Tabu“ eine „Wende in der Tabuforschung“ einleitete. Genaueres lässt sich aus einem Aufsatz von Ortrud Gutjahr entnehmen, der in einem von ihr gemeinsam mit Claudia Benthien herausgegeben Sammelband erschienen ist. „Tabus als Grundbedingungen von Kultur“ lautet der Titel ihres Textes, der des Buches hingegen schlicht „Tabu“. Und wie der Untertitel „Interkulturalität und Gender“ verrät, nimmt der Band sein Thema unter einer bestimmten Perspektive in den Blick.

So führt die „Einleitung“ der beiden Herausgeberinnen denn auch in Fragen der „Interkulturalität und Gender-Spezifika von Tabus“ ein. Wenn es um Fragen von „Interkulturalität“ und „Gender-Figurationen“ geht, handelt es sich bei Tabus um „Bedeutungsknoten von Kultur“, wie sie in dem gemeinsamen Text darlegen. Denn diese sind „größtenteils“ kulturspezifisch und ihre „Geltung und Reichweite“ innerhalb gegebener Kulturen jeweils „geschlechtsspezifisch codiert“. Daher erfüllen sie genau an der „Schnittstelle“ von Kultur und Gender eine „grundlegende Steuerungsfunktion“, indem sie „basale Ein- und Ausschlussbewegungen innerhalb einer Gemeinschaft regeln und die affektive Codierung geschlechtlicher Zuschreibungsmodelle fundieren.“ So beleuchten die Beitragenden des Bandes denn auch „Phänomene“, „anhand derer sich die kulturspezifische und geschlechterdifferente Signatur der Tabus paradigmatisch aufweisen lässt“.

Nehme man Tabus nun unter der „übergeordnete Kategorie ,Gender‘„in den Blick, so führen Benthien und Gutjahr weiter aus, steche meist ihre „überdeutliche Fixierung auf Fragen der Sexualität und Dimensionen des Sexuellen“ ins Auge. Allerdings weisen sie auch darauf hin, dass es sehr wohl „Gender-Tabus“ gibt, die allenfalls sehr mittelbar etwas mit Sexualität zu tun haben. Als Beispiel führen sie an, dass „schon die Erwähnung des Geschlechts einer Person selbst tabu sein“ kann, „wenn etwa die Rekrutierungspraxen von Firmen oder Universitäten den Grundsatz der Gleichstellung verfolgen und es dem Gebot der political correctness widerspricht, das Geschlecht – ebenso wie die ethnische Zugehörigkeit – eines Kandidaten als Argument für oder gegen ihn zu verwenden.“

Der vorliegende Band setzt sich aus drei Teilen zusammen. Die beiden von Ortrud Gutjahr beziehungsweise Hartmut Schröder verfassten Beiträge des ersten stellen fast ein wenig kursorisch „theoretische und wissensgeschichtliche Grundlagen“ der Tabuforschung vor. „Gesellschaftliches Zusammenleben“ ohne Tabus, legt Gutjahr dar, sei „undenkbar“, da die Individuen ohne diese kein „implizites Wissen über Verhaltensgebote“ verfügten und „ohne Schutz vor Verletzung“ ihrer „persönlichen Rechte leben würde[n].“ Stellt man sich die Frage, ob hierzu wirklich Tabus notwendig sind, oder nicht schon Straf- und Zivilrecht hinreichen könnten, so wird man spätestens bei der Lektüre des folgenden Beitrags von Hartmut Schröder über die „Kulturspezifik von Tabus“ belehrt, dass Tabus als „Meidungsgebote und negative Konventionen […] nur wenig mit direkten Verboten zu tun“ haben. Denn, so erläutert er, „sie sind im Regelfall nicht explizit markiert“, also „nicht (wie Verbote) juristisch oder (wie grammatische Regeln) nachlesbar kodifiziert“. Auch sind sie „nicht manifest (wie Verbote), sondern sie gehören zu den Latenzzonen einer Gesellschaft“. Das heißt, sie „werden nicht wie ein Verbot als von außen gesetzt erlebt“, sondern „wirken von innen heraus, ohne dass sie ins Bewusstsein der Handelnden vordringen“. Tabus gelten Menschen, die sie internalisiert haben, daher als „ganz natürliche Verhaltensweisen“.

Soweit sind die Darlegungen des Autors durchaus nachvollziehbar. Doch befriedigt sein Aufsatz nicht in jedem Punkt. Denn entgegen dem Versprechen des Untertitels, „Tabus und Euphemismen in interkulturellen Kontaktsituationen“ zu thematisieren, belässt er es lange Zeit bei solchen ganz allgemeinen Überlegungen zum Wesen und den Funktionsweisen von Tabus. Erst auf den letzten Seiten nähert sich der Autor seinem eigentlichen Thema und kommt schließlich bei „Interlinguale[n] und interkulturelle[n] Taubwörtern“, „tabuisierte[m] Verhalten und tabuisierte[r] Gestik“ und schließlich bei „traditionellen Tabus in der kirgisischen Kultur“ an, wie etwa dem für dortige Ehefrauen geltenden Verbot, den Namen ihres Mannes zu nennen oder dem für Schwiegertöchter, die Schwiegereltern anzulächeln. Diese und andere nur das weibliche Geschlecht betreffende Verbote in der kirgisischen Kultur werden von Schröder allerdings nur benannt, ohne dass er sie gendertheoretisch beleuchten würde. Statt dessen rät er seinen LeserInnen: „Wir sollten wissen, dass andere Kulturen ihre eigenen Tabus haben können, die wir in der Kommunikation respektieren müssen“. Ihn des Kulturrelativismus zu zeihen, wäre angesichts einer solchen Pauschalempfehlung noch ein vergleichsweise milder Vorwurf. Man könnte in ihr auch eine auf Arroganz beruhende Toleranz des sich per se überlegen dünkenden vermuten. Eine Kommunikation auf gleicher Augenhöhe jedenfalls verlangt gegenseitige Rücksichtnahme, ohne darum notwendigerweise die Kritik oder gar die Ablehnung zu verhehlen, die man möglicherweise gegenüber bestimmten kulturellen Gepflogenheiten, Praktiken und eben auch Tabus der je anderen Seite hegen mag. Eine solche Rücksichtnahme impliziert zudem keineswegs notwendig das positiv mit Achtung konnotierte Gefühl des Respekts vor deren Tabus. Den man bestimmten Tabus, wie etwa rassistischen oder sexistischen, im übrigen auch gar nicht entgegenbringen sollte.

Der zweite, mit sieben Aufsätzen umfangreichste Teil des Bandes erörtert anhand diverser Beispiele „leitende Tabus und ihre kulturelle Signifikanz“. Mitherausgeberin Benthien etwa geht hier der „Inzestscheu“ anhand von Tragödien aus den Federn Sophokles’, Rancines und Schillers nach, Ulrich Port denkt anlässlich von „Medeas Mord an ihren Kindern“ über „Mythos und Tabu“ nach, Benigna Gerisch betrachtet „Suizidalität und sexuelle Leidenschaft“ als „zwei Seiten eines (weiblichen) Tabus“ und Sven Kramer befasst sich mit „Tabuschwellen in literarischen Diskursen über den Nationalsozialismus und die Shoah“.

Der dritte und letzte Teil des Bandes lenkt das Interesse auf „Aspekte der Enttabuisierung in unterschiedlichen Künsten sowie der Populärkultur der Moderne“. Horst Bredekamp besucht „Michael Jackson in Bukarest“ anlässlich eines der Konzerte des jüngst verstorbenen Sängers und Gabriele Klein schaut sich „Performance-Kunst als Tabubruch“ an. Ein Beitrag mit dem einigermaßen reißerischen Titel „Nigger und Judensau. Tabus heute“ beschließt den Band. Der Verfasser Hartmut Kraft arbeitet sich darin nicht zuletzt an der vermeintlichen political correctness ab und gibt dabei einige Horrorstorys aus Diane Ravitchs berüchtigtem Werk „The Langauge Police“ zum besten, die er „ebenso amüsant wie doch auch erschreckend“ findet. Hingegen scheint er es versäumt zu haben, einen Blick in seriöse Werke wie etwa Ariane Manskes grundlegende Untersuchung zur „amerikanische[n] PC-Kontroverse“ oder in Marc Fabian Erdls erhellende Arbeit über „die Legende von der Politischen Korrektheit“ zu werfen.

Titelbild

Claudia Benthien / Ortrud Gutjahr (Hg.): Tabu. Interkulturalität und Gender.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
290 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770546282

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