Die Großstadt und ihr Dichter

Joachim Dyck schreibt über „Benn in Berlin“

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gottfried Benn ist ein Solitär unter den deutschen Dichtern und überdies immer noch ein Rätsel. „Von den Nazis als Schwein, von den Kommunisten als Trottel, von den Demokraten als geistig Prostituierter, von den Emigranten als Renegat, von den Religiösen als pathologischer Nihilist öffentlich bezeichnet“, so beschreibt Benn sich selbst. Er war ein Zyniker mit radikalen Neigungen, der dem abendländischen Humanismus skeptisch bis ablehnend gegenüber stand und gleichwohl als Arzt viele seiner Patienten kostenfrei behandelte. Sein staatsbürgerliches Selbstverständnis war, gelinde gesagt, verschroben und reichlich zugespitzt, wenn er meinte: „Die Geschichte arbeitet an ihren Wendepunkten nicht demokratisch, sondern terroristisch“. Die Folgen dieser putschistischen Weltsicht bekam er am eigenen Leib zu spüren. So lebte er, obgleich reich an Poesie, in eher ärmlichen Verhältnissen.

Einige Biografen haben sich schon an dieser Sphinx abgemüht: vor vier Jahren auch Joachim Dyck, heute Vorsitzender der Gottfried-Benn-Gesellschaft, in seiner Monografie „Der Zeitzeuge Gottfried Benn 1929-1949“. Die Kritik zeigte sich zurückhaltend bis enttäuscht. Zu apologetisch, lautete das Urteil. Das Dilemma hat Dyck nun auf seine Weise gelöst, indem er, die große Fülle seines Wissens und des ihm vorliegenden Materials sichtend, den Fokus auf die Stadt gerichtet hat, in der Benn, wenn irgendwo überhaupt, zuhause war: Berlin. So ist in der Tat ein sehr genauer und zuverlässiger Stadtführer zu den biografischen Orten Benns entstanden, die fast immer auch literarische Spuren hinterließen. Dyck liefert außerdem, parallel zu den Lebensstationen seines Protagonisten, eine kleine, aber anregende Geschichte Berlins in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was bereits ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis andeutet. So finden sich unter anderem Exkurse zu den Themen: Militärisches Leben in Berlin, Berlin als Wirtschaftsmetropole, Vergnügungsindustrie, Berlin in Trümmern, Blockade und Währungsreform. Eingehend werden auch die Wohnorte und ihre nähere Umgebung sowie die Freunde beschrieben, sofern sie Benn in Berlin besuchten. Dazu werden kurze Texte aus den Werken und Briefen Benns oder seiner Zeitgenossen zitiert.

Natürlich ergibt dies alles kein abgerundetes und schlüssiges Porträt des Autors, der bisweilen als ein etwas kauziger, aber sympathischer Außenseiter erscheint. Vielmehr ermöglicht Dyck einen Einblick in den Kosmos Benn, indem er, modern gesprochen, bestimmte Themen auf verschiedenen Ebenen verlinkt. So erfährt der Leser etwa, wo und warum Benn Militärarzt wurde und wie sein Weg schließlich über die Militärhygiene zur Hautarztpraxis führte. Auf zwei der zahlreichen Fotos kann man den bayerischen Platz von 1937 mit der Trümmerwüste von 1947 vergleichen und erfassen, wohin das von Benn begrüßte „ Dritte Reich“ schließlich jeden Beteiligten geführt hat. Auch zu einigen Personen hat Dyck Neues zusammengetragen, etwa dass Franck Wedekinds Tochter Kadidja den Verehrer ihrer Mutter „ekelhaft, aber interessant“ fand. Zu anderen Personen, auch zu Benns zahlreichen Frauenbekanntschaften, einschließlich seiner drei Ehefrauen, gibt es Kurzporträts. Selbst in Benns Mietstreitigkeiten, die schließlich zur Aufgabe seiner Arztpraxis führten, erhält der Leser Einblicke, ebenso wie in den Personalfragebogen des Magistrats von Groß-Berlin, in dem Benn Stellung zu seinen Verstrickungen in den Nationalsozialismus nehmen muss: Kein Parteimitglied, kein anerkanntes Opfer des Faschismus. Wer kann Sie empfehlen: niemand.

Dyck hat die hier vorgeführte Methode der weitgehend wertungsfreien Materialsichtung bereits in einem großen biografischen Essay erprobt, den er seiner 1986 bei Wagenbach veröffentlichten Sammlung von 50 Benn-Gedichten beigesellt hatte, ohne diesen jetzt noch einmal aufzuwärmen. Vielmehr enthält das vorliegende Bändchen gegenüber dem Vorläufer weitgehend neues Bildmaterial und Dokumente und ist daher eine weitere Fundgrube für Benn-Interessierte.

Ob das Bild auf Seite 55 tatsächlich Oskar Loerke und nicht Benns Freund Klabund zeigt, sei ebenso dahingestellt, wie Dycks merkwürdige Behauptung, dass „die Hälfte aller Berliner Frauen von russischen Soldaten und Fremdarbeitern vergewaltigt worden“ seien.

Titelbild

Joachim Dyck: Benn in Berlin.
Transit Buchverlag, Berlin 2010.
144 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783887472504

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