Kosmopolitisch oder eurozentrisch?

Der Weltbürger Goethe, international erforscht

Von Ulrich KrellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Krellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das in gewohnter Aufmachung im Wallstein Verlag herausgebrachte Goethe-Jahrbuch 2009 enthält im ersten Drittel zwölf Vorträge der Konferenz „‚Weite Welt und breites Leben‘ – Goethe, der Weltbürger“, zu der im Juni 2009 etwa 600 Goethefreunde aus 20 Ländern in Weimar zusammengekommen waren. Im Eröffnungsbeitrag geht Yoshito Takahashi Goethes Weltbürgerlichkeit anhand des Begriffs der „Weltliteratur“ nach, den dieser zwar keineswegs als erster benutzte, aber doch programmatisch und strategisch neu verstand, wenngleich er – aus der Perspektive Japans – „durchaus eurozentristisch“ gedacht blieb.

Im engeren Umkreis des Konferenzmottos sind fünf weitere Vorträge angesiedelt, die sich mit Goethes Verhältnis zur Kosmopolitismusdebatte seiner Zeit befassen (Andrea Albrecht) oder den Weltbürger Goethe als „Weltleser“ porträtieren (Terence James Reed). In den Fokus rücken insbesondere die „Wanderjahre“, die als Manifestation eines „Weltbürgertums“ gedeutet werden, das an die „Sammlung der eigenen inneren Kräfte“ appelliert (Irmgard Egger), die in einer „Darstellung des übenden Lebens unter den Bedingungen der Moderne“ (Manfred Koch) ihren Ausdruck findet und Goethes intensive Rezeption der Schriften von James Fenimoore Cooper erkennen lässt (Dennis F. Mahoney).

Weitere vier Vorträge beschäftigen sich mit dem ‚politischen‘ Goethe, der bekanntermaßen „kein Revolutionsfreund“ war, wie Hans-Jürgen Schings anhand eines bislang übersehenen Bezugs zwischen der im revolutionären Frankreich ermordeten Princesse de Lambelle und der Zentralgestalt der „Natürlichen Tochter“ zeigen kann. Auch mit seiner Faustgestalt hat Goethe – so erläutert Jane K. Brown – eine hochambivalente Auseinandersetzung nicht nur mit der Französischen Revolution, sondern dem dafür maßgeblichen Menschenbild Rousseaus gesucht. Die intensive Beschäftigung Goethes mit der epochalen Gestalt Napoleons dokumentiert Barbara Besslich unter anderem anhand der Verlagerung des Goethe’schen Geniebegriffs vom scheiternden zum handelnden Helden. Einen dezidiert politischen Goethe präsentiert auch Gerhard Müller, wenn er dessen Wirken in Weimar als ein „Projekt“ erläutert, das Goethe „nicht mehr nur an die Zeitgenossen adressierte, sondern auch an die Nachwelt“. Zwei Vorträge von Dieter Borchmeyer zu Goethes Handhabung des Iphigenie-Mythos und dem „spielerisch-performative[n] Moment“ von Goethes Orientaneignung am Beispiel des „Westöstlichen Divans“ (Anil Bhatti) schließen den ersten Komplex ab.

In der nachfolgenden Rubrik „Abhandlungen“ offeriert der 126. Band des Goethe-Jahrbuchs einen Beitrag Thomas Gärtners zu zwei Konzepten der Hoffnung in Goethes „Achilleis“-Fragment, einen wiederum der „Iphigenie“ gewidmeten Motivvergleich, der Goethes Adaption derjenigen von Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie gegenüber stellt (Gerhard Kaiser – Freiburg i. B.) und eine Untersuchung zu Günther Müllers im Rückgriff auf Goethe entworfene morphologische Poetik, die weniger ihrer biologischen Grundthese, sondern vielmehr ihrer „szientifische[n] Sachlichkeit“ nach weitergewirkt habe (Gerhard Kaiser – Göttingen).

Bislang unbekanntes Material präsentieren die „Dokumentationen und Miszellen“ mit einem Billett Herders an Goethe aus dem Umkreis seiner Berufung nach Göttingen (1789) und dem Schreiben eines Marktredwitzer Glashüttenbesitzers, das Goethes empirische Bestrebungen bei der Untermauerung seiner Farbenlehre illustriert. Biobibliografisch aufgeschlüsselt wird die wenig beachtete Schriftstellerexistenz eines Francois Joseph Reinhard, der einen im Goethe-Schiller-Archiv aufbewahrten Brief an Goethe verfasst hatte. Eine scheinbare geografische Ungenauigkeit der „Italienischen Reise“ wird berichtigt und ein anlässlich der Fusion der Weimarer Kunstsammlungen mit der Stiftung Weimarer Klassik wieder aufgetauchtes Schubladenschränkchen wird als jene Mionnet’sche Abdrucksammlung identifiziert, die Goethe einst Anschauungsunterricht bei seinen Antikestudien bot. Zwei im Urteil gegensätzliche Betrachtungen über Martin Walsers Goethe-Roman „Ein liebender Mann“ von Dieter Borchmeyer und dem Musikwissenschaftler Peter Gülke bilden das Schlussduo.

Ein vierter Teil des Jahrbuchs enthält 32 Rezensionen zu Monografien, Sammelbänden und Nachschlagewerken der Goethe-Philologie, auf die hier nicht detaillierter eingegangen werden kann. Hervorgehoben werden sollen lediglich zwei Besprechungen der historisch-kritischen Ausgaben von Goethes Tagebüchern und Briefen. Mittlerweile fünf Doppelbände liegen von der Tagebuchedition vor. Den 2008 herausgekommenen Band 4, dessen Kommentarteil den Textband um das Fünf- bis Sechsfache übertrifft, lobt Norbert Oellers für seine „ganz vorzügliche Qualität“. Ein großes Lob für den editorisch „nicht hoch genug einzuschätzenden Fortschritt“ geht auch von Klaus-Detlef Müller an die 2008 und 2009 erschienenen beiden ersten der auf 36 Bände angelegten historisch-kritischen Briefedition, die voraussichtlich in einem Vierteljahrhundert die vierte Abteilung der Weimarer Ausgabe ersetzt haben soll.

Das letzte Drittel des Bandes enthält neben den Essays der Preisträger des 2. internationalen Essay-Wettbewerbs der Goethe-Gesellschaft, die Reden und Danksagungen anlässlich der Verleihung der Goldenen Goethe-Medaille an Friedrich Fischer-Dieskau, Norbert Miller und Werner Keller sowie Berichte über das eindrucksvolle Wirken der Goethe-Gesellschaft im In- und Ausland. Eine 681 Titel umfassende Goethe-Bibliografie für das Jahr 2008 rundet den Band ab.

Titelbild

Werner Frick / Jochen Golz / Albert Meier: Goethe-Jahrbuch 2009.
Bd. 126.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
540 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783835307629

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