Gelungener Brückenschlag

Birgit Giloys Roman „Liebe am Bosporus“ ist weitaus besser als es der Name vermuten lässt

Von Stephan ReschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Resch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Liebe am Bosporus oder Die dunklen Mächte des Terrors“: Der Name dieses Romans ist alles andere als glücklich gewählt. Er evoziert eilig hingekritzelte Pulp Fiction, eine Aneinanderreihung von Klischees, die Aufzeichnung einer tragisch verlaufenen Urlaubsaffäre. Dabei könnte Birgit Giloys Roman kaum weiter davon entfernt sein. „Liebe am Bosporus“ ist ein multiperspektivischer, kunstfertig konstruierter Text, der als Kriminalgeschichte daher kommt und dabei die Abgründe einer deutschen Kleinstadtidylle ausleuchtet. Giloy findet hinter den Fassaden der bürgerlichen Wohlanständigkeit Schicksale, die sich über Generationen tragisch miteinander verwoben haben.

Die türkische Anwältin Yaren nimmt, nachdem ihr deutscher Mandant in Istanbul wegen Mordes an zwei deutschen Frauen angeklagt wurde und daraufhin im Gefängnis zu Tode geprügelt wird, die Ermittlungen auf. Für die Polizei ist der Fall mit dem Tod des vermeintlichen Täters ad acta gelegt, doch die Anwältin glaubt den Unschuldsbeteuerungen des verstorbenen Mandanten. Alle Spuren führen in eine von Weinbergen umgebene Kleinstadt am Rhein, die zwar nie näher benannt ist, von Ortskundigen aber leicht identifiziert werden kann. Aus dem Winzeridyll fliehen junge Frauen ins ferne Istanbul, ein Jugendlicher inszeniert den eigenen Tod, eine wohlhabende Frau erhängt sich, Babys werden vor den Klostertoren abgesetzt und eine Familie kommt bei einer Brandstiftung ums Leben. Und immer wieder fällt der Name eines Engländers, der vor drei Generationen das Städtchen besucht hat. Yaren spricht mit Anwohnern, hört Anekdoten, liest Briefe und so setzt sich Stück für Stück das verstörende Mosaik einer von Lügen, Affären, Vorurteilen, Neid und Hass geprägten Kleinstadtgesellschaft zusammen. Den Mantel der Verschwiegenheit zu durchstoßen, gelingt auch Yaren nur sehr unvollständig und so ist der Leser auf die Erinnerungen und Aufzeichnungen der einzelnen Protagonisten angewiesen.

Diese Darstellungen in der ersten Person sind das Herzstück des Romans, sie werfen jeweils einen Lichtstrahl auf das Geschehen, ohne das Ganze zu erhellen: je mehr man über das Verhältnis der Personen zueinander erfährt, desto schwieriger erscheint es, den Knoten zu entwirren. Giloy entwirft eine Personenkonstellation, die sich in ihrer Komplexität an jenen von Gabriel Garcia Márquez messen kann und durch inzestuöse Verhältnisse und uneheliche Kinder über drei Generationen noch komplizierter wird.

Einen Roman, dessen Protagonisten am Ende tot oder lebensunfähig sind, kann man kaum erhebend nennen. Trotzdem ist Giloys Text alles andere als düster. Die Autorin hat Sympathie für die verqueren Charaktere, die die Erzählung bevölkern, sie kennt sie und gibt ihnen Raum, ihre Geschichte zu erzählen. Keiner von ihnen ist frei von Schuld an den menschlichen Tragödien, die sich zwischen der kleinen Stadt und Istanbul zugetragen haben. Wenn man aber ihre Geschichte liest, kann man sich ihr Handeln erklären, vielleicht sogar Verständnis dafür finden. „Keiner werfe den ersten Stein“, dies ist ein Satz, den eine Protagonistin immer wieder zitiert und so ist auch die Autorin nicht bereit, menschliche Schwäche zu verurteilen. Angeklagt werden vielmehr Dünkel und Statussucht, die ein verlogenes Leben notwendig machen.

Herausragend ist Giloys Sprache, die Bauern- oder Winzerschläue ebenso lebendig und überzeugend wiederzugeben weiß wie die Mutmaßungen eines Istanbuler Polizeikommissars, der schon alles in seinem Leben gesehen haben will. Giloys Figuren, ob türkisch oder deutsch, bleiben im Gedächtnis, denn die Autorin weiß ihre Unterschiedlichkeit auch sprachlich prägnant umzusetzen. Giloy ist in jedem der von ihr beschriebenen Milieus zuhause, sie schreibt klug, präzise und einfallsreich. Diesem Stil ist es zu verdanken, dass man sich, trotz der verschachtelten Handlung, nicht im Text verirrt.

Eine so verstrickte Geschichte kann oft nur der Zufall aufklären. Wenn es scheint, als ob es unmöglich wäre, das letzte Mosaiksteinchen zu finden, treffen die Protagonisten unerwartet aufeinander, manchmal ohne zu wissen, mit wem sie es zu tun haben. Bisweilen reizt Giloy die Macht des Zufalls bis an die Grenze der Glaubwürdigkeit aus, doch für die Kriminalgeschichte ist das höchst anregend. Ihr gelingt es mühelos, entweder dem Leser oder einer ihrer Figuren jenen entscheidenden Wissensvorsprung einzuräumen, der dem Text bei aller thematischen Schwere etwas Spielerisches verleiht.

Doch was sich als faszinierende Kriminalgeschichte liest, bei der man gerne einige Seiten zurückblättert um Aussagen zu überprüfen und sich langsam der komplexen Familienverhältnisse bemächtigt, ist im Grunde ein Ausdruck tiefer Traurigkeit. Eine Protagonistin findet zwar tatsächlich Liebe am Bosporus, aber das Glück währt nicht sehr lange. Alle anderen Figuren sind rastlose Wanderer, die versuchen, den Traumata ihres Daseins zu entfliehen. Für den Nachttisch ist der Roman kaum geeignet. Er fordert einen hellwachen Leser, der bereit ist, immer wieder in die Vergangenheit einzutauchen, um die Romangegenwart zu verstehen. Belohnt wird er dafür mit einer höchst anregenden Lektüre: Die Autorin kann hervorragend erzählen kann und hat ein feines Gespür für Menschliches. Man kann sich nur wünschen, bald mehr von Birgit Giloy zu lesen – dann aber hoffentlich ein Buch mit einem Titel, der dem Inhalt gerecht wird.

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Birgit Giloy: Liebe am Bosporus. Oder Die dunklen Mächte des Terrors.
Roman.
ars una, Neuried 2009.
244 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783893914715

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