Die Sterne explodieren

Eine Ausstellung im Cincinetti Art Museum und ein umfassender Katalog dokumentieren den Durchbruch der Colorfotografie in den 1970er-Jahren – in den USA, wo sonst

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ohne Zweifel gehören die 1970er-Jahre zu den ereignisreichsten Perioden der Geschichte des 20. Jahrhunderts, auch und eben in Kultur und Kunst. Die Gesellschaften entwickeln sich mehr und mehr zu offenen Systemen, die nicht auf autoritäre Dominanz, sondern auf Legitimität und Anerkennung aufbauen. Sicherlich sind das fragile Systeme, und die Skandale und Auseinandersetzungen dieses Jahrzehnts zeigen genau an, dass es sich um eine Umbruchzeit handelte.

Ob nun die RAF in Deutschland oder der Vietnam-Krieg und der Watergate-Skandal in den USA – den Industriegesellschaften macht zu schaffen, dass nichts mehr selbstverständlich ist, alles in Fluss gerät und Regularien erst in der Diskussion durchgesetzt werden können. Die Gesellschaften werden zur selben Zeit bunt und bunter, sie differenzieren sich weiter aus in ihren Lebensstilen, die nicht mehr (nur) zufallen, sondern mehr und mehr gewählt werden müssen.

Dass dies Mühe macht, lässt sich an der Ratlosigkeit der öffentlichen Diskussionen und an der Kreativität der Kunst erkennen. Der Zustand der Siebziger (auch in der Kunst) macht zudem deutlich, dass überhaupt erst einmal Reflexionsformen entwickelt werden müssen, damit so etwas wie Fragen und Antworten möglich werden.

Und an diesem neuralgischen Punkt hat die Farbfotografie ihren Platz in der Gesellschafts-, Kunst- und Fotografiegeschichte. Bis in die 1970er-Jahre hinein ist die Fotografie, die Kunst sein will, schwarzweiß. Das wird durch die Adelung der sozialkritischen Fotografie eines Walker Evans eigentlich nur noch verstärkt. Selbst die Popularität der großen Nachrichtenmagazine wie „Stern“ oder ihrer internationalen Schwesterformate ändert daran nichts. Die Reportage von Rang meidet die Farbe zumeist ebenso wie die Fotokunst.

Zu sehr war die Farbfotografie mit der Amateurknipserei und der Werbung verbunden, die sich früh der neuen technologischen Möglichkeiten bediente. Farbfotografie war kommerziell, dilettantisch, beliebig und unfokussiert. Sie lenkte ab, wo die Schwarzweißfotografie die Aufmerksamkeit lenkte. Sie ließ in der Farblichkeit untergehen, was in Schwarzweiß hervorstach. Sie macht alltäglich, was in der Kunst ansonsten zum Extraordinären stilisiert werden sollte. Sie war Anti-Kunst, wo die Schwarzweißfotografie den Kunstcharakter vor sich hertrug. Sie war vulgär, wie Walker Evans Ende der 1960er-Jahre die Abneigung gegen die Farbfotografie auf den Punkt brachte – was ihn nicht daran hinderte, in den 1970ern selber mit der Farbfotografie zu experimentieren (siehe die Besprechung zu James Crump: Walker Evans. Decade by Decade).

Hinzu kommt, dass die meisten Fotografen die Entwicklung von Schwarzweißfilmen und die Gestaltung der Papierabzüge beherrschten, in der deutlich komplizierteren und langwierigeren Farbfotografie jedoch an ihre Grenzen stießen und die Erstellung der Abzüge an professionelle Labors abgaben. Die Auffächerung der Farbfotografie in Dia, Papierabzug und Polaroid zeigt in dieser Hinsicht nicht nur die formalen Möglichkeiten an, sondern auch die technische Vielfalt, bei der auch professionelle Fotografen an Grenzen stießen.

Die Arbeitsteilung von gestaltendem Zugriff und Labor blieb bis in die letzte technologische Revolution in der Fotografie und der Umstellung auf digitale Speichermedien gängig. Mit der Kontrolle über den Entwicklungsprozess gaben Fotografen zudem auch ein Stück Autonomie bei der Kontrolle der formalen und auch inhaltlichen Gestaltung ab, was ihrem Selbstverständnis meist nicht entsprach. Die Ablehnung war also konsequent und hatte konzeptionelle und habituelle Gründe.

Die Vorbehalte gegen die Farbfotografie fielen freilich in den 1970er-Jahren, und zwar aus verschiedenen Gründen. Im Jahre 1981, als das Museum of Modern Art eine große Ausstellung zur Neuen Farbfotografie veranstaltete, galt sie bereits als Kunstform als durchgesetzt. 1976 jedoch, als der Leiter der Fotografieabteilung des Museum of Modern Art, John Szarkowski, den Werken William Egglestons eine Einzelausstellung widmete, war die Farbfotografie noch künstlerisch eine terra incognita, und die Ausstellung war ein enormer Skandal – wenngleich mit entgegengesetzter Wirkung.

Denn die von der Kritik gegen die Werke Egglestons vorgebrachten Argumente zeigten vor allem, wie überfällig die Ausweitung des fotografischen Vokabulars war. Mit anderen Worten, Eggleston zeigte, dass Farbe zweifelsohne eine Aussagekraft hatte, die der Schwarzweißfotografie abging. Er blieb dennoch der Tradition der berühmten amerikanischen sozialkritischen Fotografie verpflichtet.

Wenn die Arbeiten eine Welt von Verwandtschaft und Verwandtschaftsbesuchen, überheizten Wohnzimmern, Sport im Fernsehen, betrunkenen Onkeln, Kindern, die in Schlafzimmer spielen und Spülen voller dreckigem Geschirr signalisierten, wie Kevin Moore in seinem umfangreichen einleitenden Essay betont, dann ist der kritische Blick auf dieses Amerika offen erkennbar. Das korrespondiert mit den ästhetischen Mitteln der Farbfotografie – brachte sie doch eine neue Ästhetik von Transparenz und Doppeldeutigkeit, Unbestimmtheit in die Fotografie, so Moore. Mit anderen Hintergründen, mit einer anderen Zielrichtung, aber dennoch: Die Fragen, die sich Eggleston und mit ihm zahlreiche Kolleginnen und Kollegen wie Stephen Shore, Joel Sternfeld oder Jan Groover stellten, zielten auf den Kern des amerikanischen Selbstbewusstseins und der amerikanischen Identität. Und die war nach ’68, Vietnam und Watergate zutiefst erschüttert. Die Selbstverständlichkeit, mit der Amerika in sich ruhte, wirkt gewollt und bemüht. Zugleich zeigt sich, in welchem Zerfallsgrad sich diese Großmacht befand.

Eggleston nahm, um dieses Ziel zu erreichen, eine uramerikanische Tradition wieder auf, die bereits bis dahin zahlreiche Ikonen der amerikanischen Fotografie hervorgebracht hatte, und die in seinem Fall schnell zu einem neuen, zugleich bekannten Bildprogramm führte: das der Überlandfahrt.

Er fand dabei zu einem Motivreservoir, das heute fest im Gesamtbild Amerikas verankert ist: Hausansichten, menschenleere Straßen, die nirgendwohin führen, Automobile, die vor einsamen Häusern geparkt sind, gut genährte, beinahe starr blickende Menschen in und vor ihren Häusern.

Das zentrale Werk Egglestons, „Red Ceiling“, das zur „Greenwood, Mississippi“-Reihe aus dem Jahr 1973 gehört, zeigt eine einfache Lampe, die an der blutrot gestrichenen Decke eines Raums hängt. Leitungen nehmen provisorisch Strom ab von der anscheinend einzigen Stromquelle in diesem Raum. Zustände wie aus der Frühzeit der Elektrizität – aufgenommen in den 1970er-Jahren der USA. Mag sein, dass Eggleston hier Banalität und die täglichen Anachronismen einer Übergangszeit in aller Härte präsentierte. Mag sein, dass die farbliche Überlast der Aufnahmen kein Entkommen erlaubte – dennoch, diese Fotografien demonstrieren ihren Kunstcharakter mit aller Macht. (Was der Kritik nicht gefiel, die sich gerade Eggleston „Red Ceiling“ vornahm: „Wenn Du es nicht gut machen kannst, machs rot“, zitiert Moore den Kritiker Ansel Adams).

Andere Fotografen folgten Eggleston jedoch enthusiastisch, wie Leo Rubinstein in seinem gleichfalls abgedruckten Essay zu erkennen gibt. Helen Levitt, Eve Sonneman, William Christenberrry, Leo Rubinstein, Neal Slavin, Stephen Shore, Harry Callahan – ein Blick in das Werk dieser Fotografen zeigt, wie stark die Farbfotografie in ihren Möglichkeiten ausdifferenzierte und wie sehr sich ihre Motive und Formen doch zu einem Gesamtbild zusammenfügten: das Bild eines Amerikas im Wandel. Die Restbestände einer alten Macht, eines alten Landes, das sich immer für jung gehalten hatte, sind dabei ebenso zu sehen wie der offene Horizont, der – uramerikanisch – mit allem verbunden ist.

Zugleich hebt Moore die gesellschaftliche Bedeutung der Farbfotografie hervor. Aufsässigkeit und Naivität habe die neuen Fotografen gekennzeichnet. Nicht Dokumentation, sondern ein aggressiver Blick auf die Oberfläche der eigenen Gegenwart ist in den Arbeiten Egglestons und seiner Kombattanten zu erkennen.

Dabei sind durchaus Abweichungen aus dem breiten Strom der gegenständlichen, neorealistischen Fotografie zu finden (eben auch in diesem Band): Robert Heineckens Spiel mit Reklameikonen, Les Krims surrealen Inszenierungen, Richard Misrachs Blitzspielereien oder John Pfahls Kombinationen von Fotografie und geometrischer Form bedienen das Bild einer durchweg sozialkritischen Farbfotografie nicht – was sich in der Gegenwartsfotografie und ihren ästhetischen Grenzgängen bestätigt.

Die ästhetische Offenheit wundert nicht besonders, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Repräsentanten der Farbfotografie der 1970er-Jahre aus anderen Künsten in die Fotografie gewandert waren. Viele von ihnen waren Maler, andere arbeiteten, wie Kevin Moore in seinem instruktiven Begleitessay schreibt, an den Schnittstellen mehrerer Medien. Wie sehr das die Fotografie bestimmt, ist an Elementen wie Raumaufteilung und Farbeinsatz zu sehen.

Der nun vorliegende Band dokumentiert den Siegeszug der „76er“, wie die neuen Farbfotografen, angelehnt an die Eggleston-Ausstellung 1976 genannt werden, umfassend. Seinen eigenen Essay hat Kevin Moore mit einem kurzen Text von Leo Rubinstein ergänzt, der die revolutionären Perspektiven zeigt, die mit der neuen Kunstform verbunden wurden. James Crumb schließt mit einem Ausblick auf die Kunstfotografie nach 1980 den Textteil des Bandes. Dass er bei den wohl wirkungsvollsten neuen Fotografen, Bernd und Hilla Becher und schließlich bei Andreas Gursky endet, verweist nicht nur auf den zyklischen Charakter, den das öffentliche Interesse an der Fotografie hat, wie Crumb hervorhebt. Zugleich zeigt sich, dass die Fotografie heute international vernetzt ist wie selten zuvor. Insofern ist der Band eben auch ein Rückblick auf eine Zeit, in der (künstlerische) Revolutionen noch aus einem Land kommen konnten und nicht von überall her.

Titelbild

Kevin Moore: Starburst. Color Photography in America 1970 - 1980.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010.
272 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783775724906

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch