Still he’s rowling along

Die meisten lesen Arno Schmidt aus falschen Gründen. Vielleicht kann jetzt die gesetzte Fassung seines gefürchteten Buchungetüms Zettel’s Traum daran etwas ändern

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein solches Buch liest niemand einfach so. Monate oder gar Jahre braucht man, um das durchzustehen. Gesetzt den Fall, man kapiert überhaupt, was da geschrieben steht. Sollte man sich stattdessen nicht lieber einmal Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ vornehmen, ganz geruhsam Lew Tolstojs „Krieg und Frieden“ schmökern oder sich endlich an Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ wagen?

Letzterer Roman handele „auch bloß vom Ficken“, moserte Arno Schmidt. Das unvollendete, aus unzähligen Notizmappen mit kryptischen Querverweisen kompilierte Hauptwerk Musils funktioniere vor allem nicht, weil man seine Kapitel beliebig umgruppieren könne, ohne daß dies irgendwer bemerke. Doch mit solchen Stänkereien versuchte Schmidt wohl nur davon abzulenken, daß all dies zuallererst auf seinen eigenen, umfangreichsten Text zutrifft, von dem hier die Rede ist: Der von Anfang an als Opus Magnum und verkapptes „Heiliges Buch“ konzipierte Buchstabenalptraum „Zettel’s Traum“ (ZT) flößt dem Rezipienten erst einmal gehörige Angst ein. Allein schon seine Struktur und sein Umfang gebieten Respekt: 1.334 Seiten umfaßt das ursprünglich im Format DIN A 3 und als Typoskript mit handschriftlichen Randglossen, Zeichnungen und Textschwärzungen publizierte Romanmonstrum. Ein über zehn Kilo schwerer, in Leinen eingebundener Grabstein, unter dem man zu ersticken droht, versuchte man in einem Anfall leichtsinniger Experimentierlust, ihn einmal im Bett zu lesen.

Viel wurde über dieses handfeste Kuriosum der Literaturgeschichte gespottet und geschrieben – gelesen haben es nur wenige. Jetzt also liegt das Werk in der seit vielen Jahren erwarteten, von Friedrich Forssman in endloser Kleinarbeit erstmals gesetzten Form vor, die ihrerseits 1.536 Seiten umfasst. Wohlgemerkt keine normalen Seiten, sondern großformatige, auf denen man sich einem Textfluss in drei parallel angeordneten Spalten gegenüber sieht. Trotzdem soll das Buch in seiner neuen typografischen Darstellung endlich besser lesbar sein, und tatsächlich wirkt das Schriftbild überraschend übersichtlich. Andererseits: Wird damit nicht das wüste, wilde Kunstwerk Schmidts verfälscht und konsumierbar gemacht? Wozu wurde eigentlich soviel Aufwand um die Glättung jenes einzigartigen Chaos-Gebildes gesteckt, mit seinen handschriftlichen Glossen und Schwärzungen? Mit seinen vielen Tippfehlern, die vielleicht doch gar keine sind? Tatsache ist: Die leichtere Zugänglichkeit des Textes war eines der Hauptziele von Forssmans langjährigen Anstrengungen, für deren stoische Bewältigung man entweder ein geheimer Sadomasochist oder ein Pedant sein muß. Doch es ist kein Geheimnis, daß die meisten Schmidtianer eine hybride Mixtur aus beidem als humoristischen Lebensentwurf für sich entdeckt haben.

Entsprechend verhält es sich mit dem Inhalt des Textes: Die mittlere Kolumne, die den Ablauf von 12 Stunden erzählt, in denen sich Protagonist Daniel Pagenstecher mit seinen Gästen aus dem westfälischen Lünen nahezu pausenlos über verschlüsselte Sexszenen in der Literatur Edgar Allen Poes unterhält, wird durch zwei weitere Erzähl- und Zitatstränge rechts und links ergänzt. Dort sind mehrsprachige Originalsentenzen, historische und biografische Anekdoten aus der Zeit Poes, korrespondierende Textbelege, assoziative Gedanken der handelnden Figuren oder Erinnerungsfetzen wiedergegeben.

Ein Roman, der letztlich nichts weiter erzählt als die Geschichte eines einzigen Tages, war da nicht schon einmal etwas Vergleichbares? Sie haben Recht: James Joyce hat das bereits in seinem modernen Jahrhundertwerk „Ulysses“ vorgemacht. Es kann aber Entwarnung gegeben werden: So hermetisch wie dieser Prätext, oder gar so unverständlich wie Joyces „Finnegans Wake“ – ein Buch, das Schmidt außerordentlich schätzte – ist „Zettel’s Traum“ nicht. Wer die stupide Grundthese des Werks erst einmal zur Kenntnis genommen hat – Edgar Allan Poe war ein alkoholsüchtiger Freak, der auf Kindfrauen stand und Prostituierten gerne beim Defäkieren zusah – kann dem Diskurs des Romans spielend folgen. Die Grundstruktur des Textes bleibt im Allgemeinen dialogisch: Es handelt sich um den wohl umfangreichsten psychoanalytischen Plauder-Essay aller Zeiten, zusammengesetzt aus vielfach dialektal gefärbten Streitgesprächen der Charaktere, moderiert durch den beinahe allwissend erscheinenden, enorm belesenen Intellektuellen mit den Initialen D. P., genannt Dän.

Dieser seltsame Guru wohnt irgendwo auf dem platten Land, ist alleinstehend und beherbergt für einen Julitag ein skurriles Ehepaar, das sich in beruflicher Teamarbeit mit Poe-Übersetzungen beschäftigt. Mitgebracht haben Paul und Wilma Jacobi ihre 16-jährige Lolita-Tochter Franziska, genannt Fränzel. Absurder Weise verguckt sich diese junge Frau, die von ihrer matronenhaften Mutter fortlaufend getriezt und gemaßregelt wird, ausgerechnet in den impotenten Dän.

Der ältere Herr „on the wrong side of 50“, der sich trotz seiner lebensbedrohlichen Herzkrankheit des streitsüchtigen Gegrantels der durchtriebenen Wilma ebenfalls geduldig erwehrt, ist Fränzels permanenten Avancen nicht einmal abgeneigt. Aber daraus kann und darf natürlich nichts werden. Statt dessen erhebt Dän die Impotenz vor seinen erstaunten Zuhörern zur Erkenntnisvoraussetzung „großer Männer“ im Alter, adelt sie zur „Vierten Instanz“, basierend auf Sigmund Freuds Drei-Instanzen-Modell von Ich, Es und Über-Ich: Erst wer jenseits des psychischen Machtkampfs seiner Triebe und inneren Zensurinstanzen angekommen sei, verfüge über die fruchtbare Fähigkeit, Etyms zu entschlüsseln, also die sexuelle Mehrdeutigkeit sich im menschlichen Hirn überlagernder Sprachlautcluster und ihrer vielfältigen literarischen Sublimierungen mit einem gelassenen, wissenden Gelächter an sich vorüberziehen zu lassen. Woraus wie nebenbei folgt, daß Frauen, die schließlich keine Erektionsprobleme kennen würden, dieser Etym-Theorie ihrerseits niemals wirklich folgen könnten. Yes, you heard right: So phallozentrisch argumentiert Pagenstecher tatsächlich.

Das Ganze klingt, so zusammengefasst, natürlich erst einmal verdächtig nach muffigen Altmännerfantasien, wichtigtuerischer Küchenpsychologie notgeiler Voyeure, besserwisserisch aufgehäuften Zitatgebirgen und einer kaum erträglichen Ödnis bemühter Sexkinokalauer in mehrfacher Otto-Katalog-Stärke. Eine endlose Aufzählung pubertärer Gags, über die wohl bereits in den 1970er-Jahren selbst biedere Fips-Asmussen-Fans nur noch müde hätten lächeln mögen – und zwar auch, ohne den gelobten „Satori“-Zustand eines Bewusstseins der Vierten Instanz jemals selbst erlangt zu haben.

Es gibt deshalb sogar jüngere Schmidt-Philologen (Frauen sind aus verständlichen Gründen nach wie vor kaum darunter), die dreist bekennen, sie hätten diese Selbstkasteiung nicht nötig und machten daher lieber einen großen Bogen um ZT. Auch ältere, ausgewiesene Kenner bestätigen bis heute gerne, daß es sich dabei ganz einfach um Schmidts „schlechtestes Buch“ handele.

Dem Rezensenten ist überhaupt nur ein einziger Schmidt-Forscher bekannt, der von sich behauptet, das Werk sogar fünf Mal komplett durchgelesen zu haben. Heute schämt sich der angesehene Kollege, der einige bedeutende Publikationen über Schmidt vorgelegt hat, dafür, hat einen tiefen Ekel sowie ein großes Unverständnis gegenüber seiner früheren Obsession entwickelt und sucht händeringend nach einem ahnungslosen Freiwilligen, an den er seine gesamte Schmidt-Bibliothek verschenken könnte, um den ganzen Schweinkram endlich los zu werden.

Ganz klar: So emphatisch wie der unlängst verstorbene, „einzige Schmidt-Schüler“ Hans Wollschläger und seine hörigen Anbeter kann und darf man Arno Schmidt heute nicht mehr lesen. Und doch hat der Suhrkamp Verlag nicht einmal unrecht, wenn er die Erstauflage von Zettel’s Traum in dieser Form mit der Bemerkung bewirbt, es gelte, „einen Riesenroman neu zu entdecken“. ZT ist bislang immer noch das einzige Buch Schmidts, das noch nicht auf CD-Rom vorliegt und somit niemals mittels eifriger Suchbegriffrecherchen „vermeßbar“ war. Nach wie vor handelt es sich also bei dem Text innerhalb des Gesamtwerks des Autors um so etwas wie den „Dark Continent“, eine weitgehend unergründete Fundgrube irrer Ideen, die analytisch zu durchstöbern den Pioniergeist des Lesers in beträchtlicher Weise herauszufordern vermag.

Dass Forssmann, diverse Mitarbeiter sowie seine Auftraggeber von der Arno Schmidt Stiftung diesen kapitalen Brocken nun tatsächlich noch einmal neu aufgetischt haben, wird einige Debatten über den Text sowie über die philologischen Prämissen der Edition nach sich ziehen. Unter vielen Schmidtianern gehört es zum guten Ton, an allem herumzumäkeln, was Jan Philipp Reemtsmas Stiftung vorlegt. Doch um handwerkliche Mängel von Forssmanns Arbeit nachweisen zu können, wird man sich erst einmal eingehender mit ihr zu beschäftigen haben – und damit auch abermals mit Schmidts gesamtem Buch.

So gesehen vermag diese Edition den Blick der Öffentlichkeit und der Forschung auf einen fast vergessenen Text zurück zu lenken: Wie sich Schmidt in einer vieljährigen Kärrnerarbeit an die großformatige Allegorisierung der Kaputtheit und der Verlogenheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft gemacht hat, bleibt erstaunlich. ZT ist der exzessive Versuch, Vorstudien aus Schmidts grandiosen Erzählungen der Sechziger, insbesondere aus dem Band Kühe in Halbtrauer, in denen sich bereits ähnliche Personenkonstellationen finden, in einem einzigen, umfassenden Buch zu bündeln und zu Ende zu denken. Daß dies tatsächlich in eine unabschließbare, ja, nach psychoanalytischen Erkenntnissen per se unmögliche Selbstanalyse münden würde, war Schmidt wohl klar und wird in dem – eben nicht nur autobiographisch zu lesenden – Roman auch vielfach ironisiert. In gewissem Sinne ist ZT daher das größte Fragment der Weltliteratur geblieben, ein erschlagendes Dokument des Scheiterns.

Die schwarze Pädagogik der Romanfigur Wilma etwa wird im Roman leicht als frappierende Karikatur, teilweise aber auch als täuschend authentisch nachgezeichnete Alltagsideologie der NS-Generation erkennbar, wie sie nach 1945 ungebrochen fortwirkte. Doch damit steht Wilma im Text nicht etwa als böse Frau isoliert da, sondern erscheint nur als eine Bewahrerin eines verblendeten autoritären Selbstbewußtseins, dessen Auswirkungen auch auf Dän und seine zweifelhafte Etym-Theorie jederzeit erkennbar bleiben.

Gewiß wird der Roman Schmidts eigenem poetologischen Anspruch, ein politischer Jahrhundertroman habe vor allem ein Zeitbild zu geben, aufgrund der krampfhaft umgesetzten, fixen Idee, in ihm gleichzeitig die definitive Studie über Poe mitzuliefern, nur teilweise gerecht. Es ist kein Geheimnis, daß der Schriftsteller den endlosen Text während seiner langjährigen Entstehung phasenweise in besoffenem Zustand zusammentippte. Wie ein deutscher Bürokrat – und hier erhält die Genese des Werks vor dem Hintergrund der Shoah eine geradezu unheimliche Bedeutungsebene – arbeitete der ehemalige Wehrmachtssoldat Schmidt in diesem planmäßig bedröhnten Zustand unüberschaubare Materialmassen in das Buch ein. Dabei bediente er sich eines zuvor in jahrelanger Vorarbeit zusammengestellten Zettelkastens mit Tausenden farbiger Papierschnipsel, auf denen er Ideenfetzen und Zitate notiert hatte. Tatsächlich wird man bei der Lektüre des Ergebnisses dieser Mühen den unguten Eindruck nicht mehr los, der Anspruch lückenloser Vollständigkeit habe den Autor jedes Maß schriftstellerischer Vernunft verlieren lassen. Die Dinge kompromißlos um ihrer selbst willen zu tun, ergibt eben noch nicht zwangsläufig ein gutes Buch.

Doch gerade dann, wenn man diese literarische Problemlage und ihren dunklen zeithistorischen Hintergrund mitdenkt, wird ZT noch einmal ganz neu lesbar. Schließlich sind da noch die vielen Szenen des Romans, die Schmidts Werk ganz neue Dimensionen des Schreibens eröffneten – und zwar nicht nur im Sinne eines erotischen Lachkabinetts und seiner subtilen, bis ins schier Irrwitzige hinein getriebenen Überinterpretationen, die dem Leser manchmal so albern erscheinen, dass sie fast schon wieder erhellend wirken. Nein, die Rede ist von Passagen wie denen, welche die unablässig quasselnden Figuren vor dem Fernseher zeigen. Hier wird der deutsche TV-Alltag der 1960er-Jahre kommentiert und kritisch vorgeführt.

Vor allem aber die antimilitaristischen Auslassungen Däns sowie seine und Pauls Reminiszenzen an die eigenen, voller Scham und Selbsthass erinnerten Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg gehören zu den bezeichnendsten und noch kaum interpretierten Teilen aus Schmidts Werk. Diffuse Formen der Täter-Opfer-Umkehr, wie sie mittlerweile einige Literaturwissenschaftler im Werk von zeitgenössischen Autoren wie Martin Walser kritisch unter die Lupe nehmen, kann man hier noch einmal in einer ganz eigen ausformulierten Erscheinungsform betrachten. Es gilt, sich fortan von Schmidts vielfach gebrochenen Selbstinszenierungen und -deutungen in diesem Text weiter zu distanzieren, als es bisher geschehen ist, um eine Kritik der in ihm aufgehobenen Zeitkritik möglich zu machen. So gesehen erhält ein spontaner Ausspruch Peter Kurzecks noch einmal besonderen Nachdruck: „Die meisten Leute lesen Arno Schmidt aus falschen Gründen.“

Schon deshalb ist es ein Ereignis, daß die gesetzte Version nunmehr vorliegt: Auf ihrer Basis werden vielleicht doch noch einmal neue „Expeditionen in die Urwälder des Alleinseins“ (Thomas Bernhard), die dieser bei allem Humor oft auch erschreckend depressiv daherkommende Monumentalroman ermöglicht, unternommen werden.

Der Countdown, der auf der letzten Seite des Buchs in der rechten Spalte von der Zahl 20 hinuntergezählt wird, läuft also weiter: „(:No wheel to my wagon. Still I‘m rowling along.)“ Die allerletzten Zeichen des Textes, rechts daneben: „: 0!“ Typografisch ergeben sie nicht nur das Ende einer gedachten Zeitspanne, sondern auch das Bild eines Schreienden – verstehen wir es als vernehmliche Auforderung zur Relektüre.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien bereits in „Konkret“ 10/2010.

Titelbild

Arno Schmidt: Zettel's Traum. Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe IV.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
1536 Seiten, 289,00 EUR.
ISBN-13: 9783518803103

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