Lou Andreas-Salomé legt den Übermenschen auf die Couch

Eine Analyse Nietzsches aufgrund intensiver Lektüre und persönlicher Bekanntschaft

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lou von Salomé war gerade mal einundzwanzig Jahre alt, als sie 1882 den um siebzehn Jahre älteren Nietzsche kennen lernte und tief beeindruckte. 1895, Nietzsches geistlose Hülle vegetierte bereits fünf Jahre im mütterlichen Heim in Naumburg, setzt sie sich daran, den einstigen "Denker durch den Menschen zu erläutern". Denn, so schreibt sie, bei keinem anderen Autor stimmten Werk und "inneres Lebensbild" so vollkommen überein. Wie ihr Buch "Nietzsche in seinen Werken" zeigt, ist das Unternehmen gelungen. Es ist das Ergebnis eines glücklichen Zusammenspiels ihrer intensiven Nietzsche-Lektüre und der persönlichen Bekanntschaft mit dem Autor.

Sein Leben sei durch "Leiden und Einsamkeit" geprägt gewesen, die in seinen gesamten Entwicklungen den "unveränderlichen Rahmen" bildeten. Aus ihm schaue uns "sein Bild" an. Wenn sie feststellt, dass sich etwas "schmerzheischendes" als "eigentliche Geistesquelle" durch die intellektuelle Biographie Nietzsches ziehe, so hört man bereits hier - wie auch an etlichen anderen Stellen - eine der späteren Mütter der Psychoanalyse sprechen. Anna Freud sprach sogar davon, Lou Andreas-Salomé habe in ihrem Nietzsche-Buch die Psychoanalyse vorweggenommen.

Zwar neigt auch Salomé gelegentlich dazu, den so oft bramarbasierenden Nietzsche zu überschätzen, doch erkennt sie fein- und scharfsinnig, dass der Wert seiner Ausführungen nicht in deren "theoretischer Originalität" liegt, "nicht in dem, was dialektisch begründet oder widerlegt werden kann." Wenn Nietzsche sich mit Kolumbus vergleicht, bemerkt sie ironisch, der habe "das Alte suchend, das Neue" gefunden; Nietzsche aber sei dem "umgekehrten Irrthum" erlegen. Nicht auf theoretischem Gebiet liege Nietzsches Begabung, sondern in der "intimen Gewalt", mit der hier "eine Persönlichkeit zur Persönlichkeit" rede. Vielleicht offenbart Salomé hiermit das Geheimnis, weshalb Nietzsche Künstler und Literaten stets sehr viel stärker ansprach als Philosophen - sieht man einmal von Heidegger und den französischen Grenzgängern der Postmoderne ab.

Auch wenn Salomé Nietzsches "gewaltige innere Hingebung an das Wahrheitsideal" lobt, konstatiert sie doch, dass er ihm nicht gerecht werde, sondern zu "schroffer Einseitigkeit und Uebertreibung" neige. Sie habe darin ihre Ursache, dass er "durch einen Machtspruch" Bedeutungen in die Dinge hineinlege, "die sie an sich selbst nicht haben", so dass an Stelle des "Wahrheits-Entdeckers" ein "Wahrheits-Erfinder" stand.

Mit der inneren Hingebung an das Wahrheitsideal, so weiß man es inzwischen besser, nahm es allerdings zumindest der späte Nietzsche nicht immer allzu genau. So versichert er im "Fall Wagner", es sei "nicht nur die reine Bosheit", wenn er Bizet "auf Kosten Wagner's lobe", und nannte "Carmen" ein "Meisterstück" und "vollkommen", ja, er werde ein "besserer Mensch", wenn er Bizet höre. Doch Carl Fuchs vertraute er nur wenige Monate später in einem Brief an, was er in "Der Fall Wagner" über Bizet und dessen Oper gesagt habe, dürfe er "nicht ernst nehmen"; denn "so wie ich bin", komme Bizet "tausend Mal für mich nicht in Betracht."

Salomé konnte diesen Brief nicht kennen, doch schon in der früheren Schrift "Morgenröte" spricht Nietzsche sich, wie Salomé zitiert, gegen die "Alleinherrschaft und Allmacht der Wahrheit" aus und in der "Genealogie der Moral" rühmt er "den Werth der Täuschung, des Unlogischen, und 'Unwahren'". Salomé belässt es dann auch nicht bei Nietzsches angeblicher Wahrheitsliebe, sondern bemerkt, dass er aufgrund der "Begrenztheit und Relativität alles menschlichen Erkennens" und des Primats des "menschlichen Trieblebens" einen neuen "Typus des Philosophen" propagiert habe, dessen "Gewaltwille" über Wahrheit und Irrtum entscheide. Mit der für ihn typischen Willkür bei der "Behandlung des Materials" zu Gunsten seiner Hypothesen und Theorien, so Salomé weiter, habe Nietzsche sich von "sachlicher Beobachtung und Begründung" immer weiter entfernt. Dessen ungeachtet und obwohl er die Möglichkeit von Wahrheit prinzipiell verwarf, habe er mit unnachgiebigem Nachdruck darauf beharrt, dass die Wahrheit seiner eigenen Thesen und Schriften wissenschaftlich und ein für alle mal bewiesen sei. Doch habe es sich bei Nietzsches Wahrheit um eine "mystische Offenbarung" gehandelt, deren "endgiltige Grundlage" seine "innere Eingebung" sei. Dem ist nur zuzustimmen.

Seine zusammenhanglosen Einfälle zu Wahrheit und Unwahrheit als "Erkenntnistheorie" zu bezeichnen, ist allerdings ein Euphemismus. Ebenso überschätzt Salomé - selbst alles andere als eine Philologin - Nietzsches frühe philologische Arbeiten maßlos. Nicht nur, dass sie über "seine bedeutendste philologische Arbeit"' die "Quellen des Diogenes Laertius", ohne kritische Distanz sagt, er habe "die verlornen Gestalten hineingedichtet"; sie verteidigt darüber hinaus die philologischen und historischen Phantastereien, die sich Nietzsche in der "Geburt der Tragödie" erlaubt, gegenüber der vehementen Kritik aus Kreisen der Fachkollegen als "culturphilosophische Ausführungen [...] auf streng philologischer Grundlage". Damit läuft sie Gefahr, sich der gleichen Lächerlichkeit preiszugeben wie Nietzsche selbst.

Doch geht es Salomé im Grunde gar nicht darum, den Wahrheitsgehalt oder die philologische Genauigkeit von Nietzsches Schriften zu untersuchen, sondern sie will das "Gedanken-Erlebnis in seiner Bedeutung für Nietzsches Geisteswesen" aufweisen, "das Selbstbekenntnis in seiner Philosophie". Zwar besagt das Diktum Fichtes, dass die Präferenz für eine Philosophie davon abhänge, was für ein Mensch jemand ist, noch nichts über den Wahrheitsanspruch eben dieser Philosophie, doch ist bei Nietzsche Salomés Herangehensweise umso gerechtfertigter, als er weniger argumentiert und philosophiert als bekennt und offenbart - und zwar bei aller propagierten Wahrheitsskepsis mit dem theatralischen Gestus desjenigen, der absolute Wahrheiten verkündet.

Salomé zufolge lebten in Nietzsche "ein Musiker von hoher Begabung, ein Denker von freigeisterischer Richtung, ein religiöses Genie und ein geborener Dichter", die einander unablässig tyrannisierten. Wenn sie auch zweifellos den Musiker und den Dichter überschätzt und vielleicht eher von einem (anti-) religiösen Schwärmer als von einem religiösen Genie zu reden wäre, so fällt doch ins Auge, dass sie keinen Philosophen in ihm sieht. Seine Philosophie, so erkennt Salomé, ist nichts anderes als eine "ungeheure Widerspieglung seines Selbstbildes", und je tiefer er in sich eindrang, "desto naiver legte er es dem Allbild als solchem unter." Kurz: Der von "Selbstmitleid und Selbstbewunderung" zerrissene Nietzsche "lebte den Gedanken noch viel mehr, als er ihn dachte". Mehr noch: Er vertrat eine "allem Verstandesmäßigen überhaupt abholde Philosophie". Dass Nietzsche alles Rationale ablehnte, soll hier nicht bezweifelt werden, wohl aber, dass es sich bei einer solchen Haltung um eine Philosophie handeln kann.

Sein Werk, so Salomé, sei ein einziger "Schrei nach Erlösung von sich selbst", der immer wieder auf den Pfarrersohn verweise, dessen "religiöser Grundtrieb" sein gesamtes "Wesen und Erkennen" durch alle Lebensphasen hindurch im tiefsten beherrschte. Nietzsche bedurfte des getöteten Gottes so sehr, dass seine "Gottessehnsucht [...] nothwendig in Selbstvergottung" enden musste. Damit war sein Weg in den Wahnsinn vorgezeichnet.

Salomé verklärt Nietzsches jämmerliches und erbarmungswürdiges Ende als Eintritt "in eine Welt allerindividuellsten inneren Erlebens". Sein Geist habe eine "letzte Wandlung" vollzogen. Doch davon kann keine Rede sein. Nietzsches "Geist" hatte sich nicht gewandelt. Er war zerstört, vernichtet. Doch mit schönfärberischem Pathos schreibt Salomé weiter, Nietzsches Geist sei "in einem Geheimnis von Untergang und Erhebung" entschwunden, "in einer von Adlern umflogenen Dunkelheit." Man muss der Autorin zugute halten, dass sie vermutlich wenig um das tatsächliche klägliche Dasein gewusst hat, das Nietzsche in den Klauen von Mutter und Schwester gefristet hat. Dennoch bleibt ihre Darstellung des Wahnsinns als quasi bewusste Wahl befremdlich. "In seiner letzten Einsamkeit hat er sich von uns zurückgezogen und seine Pforte hinter sich geschlossen." Nietzsche sei der Wahnsinn ein "Beweis seiner Wahrheit" gewesen, "die völlig eins" geworden sei "mit allen Geheimnissen und Verborgenheiten seiner Innerlichkeiten."

Titelbild

Lou Andreas-Salomé: Nietzsche in seinen Werken.
Insel Verlag, Frankfurt 2000.
359 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3458342923

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