Die Stimme der Toten

Über Dacia Marainis „Der Zug in die jüngste Nacht“

Von Christina LangeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Lange

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mal wieder geht es um die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Ein Thema, über das zahlreiche Filme gedreht und noch mehr Bücher geschrieben wurden. Bücher, von denen etliche – man denke nur an Bernhard Schlinks Bestseller „Der Vorleser“ – ungeachtet ihrer Qualität zur Pflichtlektüre in deutschen Schulen geworden sind. Diesen Weg in die deutschen Klassenzimmer wird „Der Zug in die jüngste Nacht“ wohl nicht finden. Hierfür dürften die Ereignisse während des Kalten Krieges in Ungarn in den 1950er-Jahren, zu denen die Autorin ihren Erzählbogen spannt, zu spezifisch sein.

Maria Amara Sironi ist auf der Suche nach ihrer großen Liebe Emmanuele Orenstein. Seit ihrer Jugend hat sie den sensiblen Jungen, der mit ihr einst in Florenz spielte und träumte, nicht mehr gesehen. Seine patriotische Mutter hatte darauf bestanden, mitten im Krieg in ihr Heimatland Österreich zurückzukehren. Dabei ist die Familie Orenstein jüdischer Abstammung. Jahrelang erhält Amara Briefe von ihrem „Geliebten“. Zunächst kommen sie aus Wien, später aus dem Ghetto in Lodz. Der letzte dieser Briefe stammt aus dem Jahr 1943. Obwohl die Befürchtung nahe liegt, dass Emmanuele in Auschwitz ums Leben gekommen ist, fasst Amara sieben Jahre nach Kriegsende den Entschluss, ihn wieder zu finden. Die junge Journalistin begibt sich auf ihrer Spurensuche nach Polen, Wien und strandet zuletzt in Ungarn, wo sie Zeugin blutiger politischer Unruhen wird. Ihr zur Seite stehen der „Gazellenmann“ Hans, selbst Sohn einer jüdischen Mutter, und Horvath, ein schrulliger Bibliothekar, der als Soldat die Gräuel des Zweiten Weltkriegs überlebte.

So fürchterlich die Traumata und Erinnerungen sind, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat, so schnörkellos und eindringlich die Autorin sie schildert, so märchenhaft und weltfern erscheint teilweise ihre Hauptfigur. Viele Rückblenden in die mal abenteuerliche, mal schöne Kindheit in Florenz zeigen Amara als Träumerin. Die Tatsache, dass sie am Ziel ihrer nahezu aussichtslosen Suche festhält, verleiht ihr fast den Charakter einer Märchenfigur. Auf ihrer Reise findet sie Verbündete, die wie sie seltsam außerhalb der Gesellschaft zu stehen scheinen. Ein Beispiel dafür ist Hans, der bald zum ständigen Begleiter Amaras wird. Er verdient sich sein Geld hauptsächlich damit, dass er sich als „Brautvater“ bei Hochzeiten verdingt. Aufgrund der vielen im Krieg gefallenen Männer sind echte Brautväter auf Hochzeiten rar geworden.

Bald allerdings holt die Realität Amara ein. Die Journalistin wird mit dem konfrontiert, was ihrem Jugendfreund tatsächlich geschah. „Anscheinend interessiert sich niemand für die Stimme der Toten“, lässt die Autorin den Bibliothekar Horvath an einer Stelle des Buches sagen. Wie sehr er recht behalten soll, wird erst am Ende des Romans deutlich. Amaras Nachforschungen lassen sie das erfahren, was sie nie erfahren wollte. Ihre Suche entpuppt sich als Jagd nach ihren eigenen Wunschbildern. Dennoch steht am Schluss wieder ein neuer Aufbruch. Mit dem Zug kehrt Amara zurück in ihre Heimat. Nach dem plötzlichen Tod ihres Ex-Mannes tritt sie sein Erbe an. Außerdem ergibt sich eine neue mögliche Perspektive für die Zukunft: Hans macht ihr einen Heiratsantrag. Ob Amara diesen annimmt oder sich doch wieder den Gestalten ihrer Vergangenheit zuwendet, lässt die Autorin offen. Es gibt also kein ‚Happy-End‘ im konventionellen Sinne.

Wie es Dacia Mariani gelingt, zwischen Trostlosigkeit und zaghaftem Optimismus zu balancieren, ist beeindruckend. Mal ist die Lektüre brutal, mal melancholisch-heiter – in jedem Fall aber ist sie empfehlenswert.

Titelbild

Dacia Maraini: Der Zug in die jüngste Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Eva-Maria Wagner.
Piper Verlag, München 2010.
480 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783492052948

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