Bleibt alles anders

In Rolf Dobellis Roman „Massimo Marini“ trügt der Schein

Von Kathrin SchlimmeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kathrin Schlimme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Und doch wird alles anders aussehen, wenn ich aus dem Tunnel komme“, denkt Giulietta auf der Fahrt von Italien in die Schweiz, kurz bevor sie ihren vier Monate alten Säugling Massimo, gut versteckt in einem Koffer mit Luftlöchern, dessen Vater aus der Zugtür entgegenwerfen wird. Immer wieder wird im Lauf dieser Geschichte alles plötzlich ganz anders aussehen. Massimo wird sich vom illegal in der Schweiz lebenden Gastarbeiterkind über den linken Aktivisten hin zum erfolgreichen Bauunternehmer und schließlich zum Angehörigen der Zürcher Oberschicht hinaufkämpfen – und nach diesem Aufstieg langsam, aber unausweichlich in einen Abgrund stürzen. Es wird eine Entführung geschehen und ein Mord, Beziehungen werden zugrunde gehen und an unerwarteten Stellen neu entstehen, Väter werden plötzlich keine Väter mehr sein – oder gerade doch, Lebensentwürfe werden scheitern und Platz machen für Neues. Allzu tiefgründig setzt Dobelli sich mit all diesen Themen aber nicht auseinander, es bleibt beim flüchtigen Skizzieren, zugunsten des beachtlichen Tempos dieses Romans. Der Vorteil dabei: langweilig wird es nicht.

Was macht eine gute Geschichte aus? Sind es dramatische, vielleicht sogar tragische Ereignisse, ist es die Möglichkeit einer Identifikation des Lesers mit den Protagonisten, erreicht etwa mittels eines konzentrierten Blicks ins Seelenleben der Figuren? Ist es die Sprache, der Stil eines Autors? Für Rolf Dobelli ist die Basis eines guten Romans der Plot: „Die Geschichte hat bei mir Vorrang jetzt beim Schreiben“, verkündete er vor kurzem in der DRS 1-Sendung „BuchZeichen“. Das merkt man. Dobelli liefert auch in seinem sechsten Roman „Massimo Marini“ einen überaus spannenden, größtenteils wohldurchdachten und dabei ziemlich eleganten Plot. Dessen geschickte Konstruktion erinnert ein bisschen an die Geschichten Martin Suters – allerdings mit minimalen inhaltlichen Schwächen. Warum kommt der Erzähler beispielsweise bei aller Grübelei nicht von allein auf die Idee, dass er Raffaelos Vater sein könnte? Für den Leser ist das schon beinahe klar, als von der entsprechenden Schwangerschaft zum ersten Mal die Rede ist. Solche kleinen Ungereimtheiten stören jedoch nicht unbedingt beim Lesen, bleibt doch die Geschichte an sich kurzweilig bis zum Schluss; wie von Dobelli gewohnt sprachlich geschliffen und flüssig erzählt.

Kleinere Schwächen sind auch in der Psychologie der Figuren zu sehen. Das Innenleben der Hauptakteure Marini und Wyss (der akut depressive Rechtsanwalt Marinis und zugleich die Erzählerfigur) hat der Autor noch recht genau ausgearbeitet; die anderen Figuren hingegen bleiben recht schemenhaft und zum Teil oberflächlich. Deren Motivation für Handlungsweisen mag an einigen Stellen ein wenig platt begründet erscheinen – etwa die Entscheidung Monikas, dem Erzähler nichts von seiner Vaterschaft zu erzählen („Sie wollte die schöne Zeit, die nach ihrem dritten Ehejahr angebrochen war, um keinen Preis gefährden“). Gelegentlich fragt man sich auch, warum die Figuren untereinander so völlig sprachlos bleiben, was die wirklich zentralen Fragen angeht. Aber auch das entschuldigt die gute und gut geschriebene Geschichte, die an sich schon Stoff zum Nachdenken bietet und auch dazu anregen kann, sich ein wenig weiter in die Psychologie dahinter zu vertiefen.

Dobelli reißt viele Themen an: soziales Elend (insbesondere das Schicksal italienischer Gastarbeiter in der Schweiz der 1950er-Jahre) ebenso wie das luxuriöse Leben im Schoß der gesellschaftlichen Crème de la Crème, Kindesmissbrauch wie grenzenlose Elternliebe, Höhepunkte menschlichen Miteinanders in Freundschaften und Beziehungen wie dessen Zerbrechen, philosophische und psychologische Probleme ebenso wie juristische und bautechnische. Auch gesellschaftlich-politische Geschehnisse und Gegebenheiten werden immer wieder zum Gegenstand der Erzählung, die Auseinandersetzung mit ihnen bleibt aber marginal. Sie dienen eher dazu, den Figuren Charakter und ein bisschen Hintergrund zu verleihen als dass sie ein ernstes Nachdenken über Themen wie die Zürcher Jugendunruhen Anfang der 1980er-Jahre oder die Bonner Demonstrationen gegen die Nachrüstung im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses wären. Darum geht es Dobelli sicherlich auch nicht, der Roman bleibt damit aber fesselnde Unterhaltungslektüre – nicht mehr und nicht weniger.

Titelbild

Rolf Dobelli: Massimo Marini. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2010.
380 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783257067545

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