Gewalt des Gleichmasses

Reiner Wild beschreibt Goethes klassische Lyrik als vorbildliches Projekt

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht ohne Stolz beschwört Goethe im Schlußvers der zweiten "Römischen Elegie" das Leben, das er 1788 in der italienischen Metropole führte: "Und der Barbare beherrscht römischen Busen und Leib." Die lang ersehnte Ermächtigung über die Frau, wie sie hier im Pentameter zelebriert wird, hatte denn auch nachhaltige Konsequenzen. Vor allem befähigte sie den Dichter, sich endlich die sperrige und spröde Tradition der antiken Literatur gefügig zu machen. So jedenfalls will es der Text der Elegien, der ja den Anbruch der Weimarer Klassik überhaupt als eine Frucht des "echten nacketen Amors / Und des geschaukelten Betts" erscheinen läßt. Ebendas aber scheint Goethe bereits unbewußt geahnt zu haben, als er seinem Herzog Anfang 1788 aus Rom von seinen jüngsten Erfahrungen berichtete. Denn ihm, dem "Doctor longe experientissimus" in Dingen der körperlichen Liebe, teilte er nicht ohne echtes Erstaunen mit, "daß eine dergleichen mäßige Bewegung das Gemüth erfrischt und den Körper in ein köstliches Gleichgewicht bringt."

Verschwiegen wird in dieser Vision Goethes freilich, mit welcher Gewalt die "mäßige Bewegung" in sein Leben hineinbrach, welcher Gewalt es bedurfte, um sein Leben von den bürgerlich-christlichen Sexualkonventionen zu befreien. Die Geburt des "klassischen" Goethe, heißt das, vollzog sich nicht als eine Metamorphose im Sinn seiner klassischen Lehre, sondern als eine Revolution - und die lehnte Goethe bekanntlich rigoros ab. Daß die revolutionäre Gewalt des nicht disziplinierten Glücks in den Versen kaum noch zu erkennen ist, hat allerdings seinen Grund. Die Elegien disziplinieren diese Gewalt durch das Gleichmaß der antiken Metrik und läutern sie in einem ästhetischen Akt, der erst den besonderen künstlerischen Reiz der Gedichte hervorbringt. Und doch schimmert an einigen wenigen Stellen die Gewalt durch die dichte Textur der Elegien hindurch: So etwa, wenn die zweite Elegie jenseits von befreiter Erotik und gespielter Obszönität die letztlich erkaufte Herrschaft über "römischen Busen und Leib" ausruft. Stellt man vor diesen Hintergrund nun die etwas später entstandenen "Venezianischen Epigramme", in denen es programmatisch heißt: "Alle Freiheits-Apostel, sie waren mir immer zuwider; / Willkür suchte doch nur jeder am Ende für sich", dann deuten sich schließlich jene Widersprüche an, die das klassische Gebäude Goethes beherrschen: nicht zuletzt als das verdrängte Eigene muß von Goethe die Revolution abgewehrt werden.

Derlei spekulative Erwägungen sind Reiner Wild fremd. In seiner umfangreichen Studie über "Goethes klassiche Lyrik" geht es ihm vielmehr um den linearen Nachweis, daß diese Lyrik "Teil und Ausdruck des 'Projekts Klassik'" sei, mit dem "Goethe und Schiller in gemeinsamer Arbeit auf tiefgreifende Krisenerfahrungen am Ende des 18. Jahrhunderts" antworteten. So ist Klassik für Wild kein statischer Kanon mehr, sondern ein "prozeßhaftes Geschehen". Daß die Antike für die Klassiker zum Gegenbild einer als krisenhaft erfahrenen Moderne wurde, gilt ihm als Motor dieses Geschehens, aus dem heraus er zugleich die tragende These seines Buches entwickelt: "Im Bewußtsein der eigenen Modernität und also der Distanz zur Antike tritt Goethe, gerade mit seiner Lyrik, in einen Wettstreit mit ihr. Und im Wechselspiel von Orientierung am antiken Muster und Selbstgewißheit als moderner Dichter gelingt es ihm in seiner klassischen Lyrik, die Erfahrung von Entzweiung und Entfremdung der Moderne noch einmal in ästhetischer Versöhnung aufzuheben."

Noch die vor der Italienreise entstandenen Gedichte, die Goethe unter der Überschrift "Antiker Form sich nähernd" zusammenfaßte, wären ihm lediglich Bildungszierrat gewesen. Nach Italien jedoch, so Wild, habe Goethe die hochartifiziellen Formen für die Darstellung eines utopischen Glückszustandes genutzt, der jenseits von Zeit und Wirklichkeit der Moderne liege - wobei die antike Form, wie in den "Römischen Elegien", einerseits Schutz sei, "um aussprechen zu können, was sonst nicht ausgesprochen werden kann", andererseits "Legitimation des Ausgesprochenen". Versteht man diese Formgebung nicht als Nachahmung sondern als Wettstreit, wie Wild das überzeugend tut, dann ist der nächste Schritt in Goethes produktiver Annäherung an die Antike nur konsequent. Denn nach der Elegie versucht Goethe nun, die Tradition des Epigramms "in die Gegenwart zu transformieren". Da das Epigramm dem Wunschbild die Wirklichkeit entgegenhalte, würden im Medium von Goethes klassischer Lyrik so schließlich die zwei wesentlichen Möglichkeiten des poetischen Sprechens miteinander konfrontiert - der utopische Entwurf und die Auseinandersetzung mit der Realität.

Die Französische Revolution jedoch zerstört dieses Gleichgewicht wieder und läßt Goethes Lyrik zeitweilig verstummen. Der Revolution widmet Wild einen Exkurs, ebenso wie der lyrischen Zusammenarbeit mit Schiller, die im Xenien-Krieg der Dioskuren gegen die literarische Öffentlichkeit gipfelt. Ein letzter und wiederum lehrreicher Exkurs beschäftigt sich schließlich mit den in Gedichtform vorgetragenen naturwissenschaftlichen Visionen Goethes. Und auch die Hauptthese wird im weiteren nicht vergessen. Die späteren, hochklassischen Elegien sowie die Balladen, die Wild ebenfalls zu den dezidiert klassischen Werken zählt, höben nun im jeweils einzelnen Gedicht auf, was sich unmittelbar nach Italien noch zwischen Elegie und Epigramm entladen habe: das Spannungsverhältnis von ästhetischer Utopie und literarischer Reflexion. Gerade in bezug auf die Balladen studiert man Wilds Fazit dabei mit Gewinn: "Es ist Goethe gelungen, in den klassischen Elegien die Entfremdungs- und Trennungserfahrungen der Moderne im Kunstwerk aufzuheben und diesen Erfahrungen die Kunst selbst und die in ihr gestaltete Utopie des gelingenden Lebens entgegenzusetzen. Die Balladen allerdings dementieren zugleich diese Möglichkeit der Kunst. In der Komplementarität von Elegien und Balladen und damit gerade auch in ihrem Gelingen zeigt so die klassische Lyrik in einer eigentümlichen Dialektik zugleich die Unmöglichkeit solcher Kunst unter den Bedingungen entwickelter Moderne. So sind - bereits zur Zeit Goethes und mehr noch heute - die Elegien ein fernes Versprechen, und es erweisen sich - anders gewendet - die Balladen erneut als die eigentlich 'moderne' Form in der klassischen Lyrik."

Erstmals ist hier die klassische Lyrik Goethes systematisch vorgestellt worden. Dabei vereint die Studie in sich die Vorzüge eines philologischen Kommentars und einer Überblicksdarstellung (so war denn Wild nicht nur am Goethe-Handbuch, sondern auch an der Herausgabe der Münchner Goethe-Ausgabe beteiligt). Weniger spektakulär könnte jedoch auch ein tatsächlicher Band-Kommentar nicht ausfallen, und wie bei einem solchen droht auch hier der Autor Goethe hinter den Ausführungen zu verschwinden. Nicht zuletzt deshalb aber ist Goethe dazu verurteilt, in Wilds Studie ein Schemen zu bleiben, weil Wild nachzuweisen sucht, daß Goethes Lyrik am Ende des 20. Jahrhunderts eine neue Aktualität gewinne. Dazu müsse man sie nur als eine ähnliche Herausforderung begreifen, "wie es vor zweihundert Jahren die Antike für die Klassik war." Das aber kann man nur, wenn man wie Wild im Werk Goethes einen herrschaftsfreien und ästhetisch autonomen Aufklärungsdiskurs imaginiert, wenn man die Klassik zu einem Projekt der Gesundheit erklärt und die individuelle Willkür Goethes, die ihn fraglos zu einem der größten Dichter seiner Zeit machte, seinerseits verdrängt. Schon Goethe selbst jedoch ist das in seinem kaum verborgenen Stolz auf die Herrschaft, die er nicht nur über römische Busen und Leiber ausübte, nicht recht gelungen.

Titelbild

Reiner Wild: Goethes Klassische Lyrik.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 1999.
317 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3476015866

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