Das leise Donnern im Kanon

Beseitigt Literaturkritik im Internet Bildungsbarrieren bei der Lektüre von „Klassikern“ der Literaturgeschichte?

Von Matti TraußneckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matti Traußneck

„Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf“ schrieb Walter Benjamin 1928 und das literarische Feld ist so umkämpft wie eh und je. Literatur und Kritik spiegeln gleichermaßen die Konflikte und Themen ihrer Zeit. Welches Werk wann welche Beachtung findet, ist zudem nicht bloß für die Zeitgenossen von Interesse, sondern auch zukunftsträchtig. Entsprechend bewegt ist die Geschichte der Literaturkritik: nicht nur aufgrund der ewigen Ressentiments gegenüber ihren ausführenden Organen, den Kritikern, sondern auch, weil sie einem immerwährenden Aktualitätsdruck unterliegt. Neuerscheinungen sind das Urmaterial der Rezension, denn die geneigte Leserschaft möchte vor der Lektüre alsbald über Qualitäten und Fehlgänge eines Textes unterrichtet sein. Die Klassiker der Literatur sind die Antöken der Neuerscheinung, auf demselben Meridian am gegenüberliegenden Ort angesiedelt, haben sie den Transformationsprozess von der Erstpublikation bis zur Kanonisierung erfolgreich hinter sich gebracht. Naturgemäß fallen sie demnach nicht in das Jagdgebiet des prototypischen Kritikers.

Mit der Etablierung des Internets geht die Möglichkeit einher, dass sich, etwa über Blogs, eine Literaturszene ausbildet, für die die Kaufempfehlung als Handlungsanleitung vollständig nebensächlich wird. Insbesondere wenn die Buchbesprechung nicht die Form von Lohnarbeit annimmt, die Motivation dazu im bloßen Interesse an der Literatur besteht, keine redaktionellen Einschränkungen gegeben sind, die Abhängigkeit von der Kofinanzierung durch Werbeanzeigen wegfällt und auch der Aktualitätsdruck, wenn also die verschiedenen Unannehmlichkeiten des professionellen Publizierens an Bedeutung verlieren, könnte sich eine literaturkritische Praxis entwickeln, die verstärkt bereits kanonisierte Werke mit einbezieht.

Kanonisierte Literatur ist allerdings nicht einfach jedem zugänglich ist, selbst wenn die örtliche Leihbibliothek gut sortiert sein sollte. Das konkrete Vorhandensein „anspruchsvoller“ Literatur bewegt die allerwenigsten bereits dazu, sich dieser zuzuwenden. Aber Lesen ist nicht out. Entgegen zahlloser Klagen lassen sich Menschen jeden Alters bei unterschiedlichsten Lektüren beobachten, selten indes handelt es sich bei diesen um renommierte Klassiker. Ihnen haftet der Staub der Zeit, der Schule und der Akademie an. Bekanntlich gab es zur Verfilmung der „Buddenbrooks“ extra eine Buch-zum-Film-Ausgabe, um die Zuschauer vor den Zumutungen des Originals zu bewahren. Mit den Stichwörtern „alt, Schule, Uni“ ist das Schicksal kanonisierter Werke markiert. Anders kommen sie kaum einmal vor, von Zeit zu Zeit allenfalls in den Feuilletons, die aber nicht massentauglich dafür werben können. Runde Geburts- und Todestage kanonisierter Autoren sind zwar Anlässe, auch auf deren Werke einzugehen, und der „Frankfurter Anthologie“ kommt sogar wöchentlich das Verdienst zu, auch alte Gedichte einem breiten Publikum vorzustellen. Es bleibt aber fraglich, ob dies ausreicht, die Uneingeweihten sehend werden zu lassen.

Könnte da das Massenmedium Internet Abhilfe schaffen? Die niedrigen Zugangshürden des Mediums bieten beste Voraussetzungen zur Etablierung einer Literaturszene, die, ähnlich einem privaten Lesezirkel, aber öffentlich, Bücher jeden Alters nur aus dem Anlass, dass man das Buch aus Lust daran gelesen hat, einer Besprechung unterzieht.

Es finden sich bereits etliche Beispiele dafür, dass es eine solche sogenannte Netzcommunity im weitesten Sinne gibt und sie sich munter fortentwickelt. Auf der Seite anti-literatur.de finden sich Ausführungen zu Thomas Bernhards „Holzfällen“, auf der Seite bonaventura.musagetes.de setzt man sich mit Émile Zolas „Germinal“ auseinander, bei buchkontakte.de mit Joseph Roths „Radetzkymarsch“ und auf kunstblogbuch.de mit W.G. Sebalds „Austerlitz“. Unter solchen Websites, die bisweilen versprechen, hier treffe man auf „die ernste, geistvolle Literatur, nicht jedoch die öde Massenliteratur“ (http://www.versalia.de/impressum.php), finden sich auch solche, die weiter nichts über ihre Ziele und Inhalte verraten und sich nur durch Rezensionen namhafter Werke outen. Über die Qualität ist aber, bloß weil man in der Leiste oben „Klassiker“ anklicken kann, noch nichts gesagt. Je nach Befähigung der praktizierenden Kritiker schwankt die Art der Besprechung ganz erheblich zwischen lesenswert und nervtötend. Inspiziert man die Kommentare zu einem Beitrag etwas genauer, wird schnell deutlich, dass selbst (oder vielleicht gerade) bei ambitionierten Besprechungen keine Diskussion zustande kommt. Auch bei ausgewiesenen virtuellen Lesezirkeln, denen man auf readme.cc beitreten kann, dem Selbstverständnis nach eine Art virtueller Bibliothekszusammenschluss, scheint man zwar gute Bücher zu lesen, kaum aber zu diskutieren.

Dennoch bleibt festzustellen, dass es sie gibt, die Leserschaft kanonisierter Literatur, und dies außerhalb von Schule und Universität. Gelingt es also mit Hilfe des Internets, die akademisch elitär umzingelten Literaturschätze zu heben und eine Re-Lektüre bei einigen Schulgeschädigten anzuregen? Doch halt: Bei genauerer Betrachtung fällt bald auf, dass auch im pluralistischen, milieuhürdenfreien Internet dieser freie Zugang nicht hält, was er zu versprechen scheint. Wer hier für wen schreibt, regelt sich quasi von selbst – mit dem Ergebnis, die Bildungsklassengesellschaft weit häufiger zu reproduzieren als sie aufzubrechen. Die Damen und öfter noch Herren, die sich zu Wort melden, um uns von ihren Erlebnissen und Erkenntnissen aus der hohen Literatur zu berichten, scheinen zu einem Gutteil selbst mit akademischen Weihen versehen oder Künstler und Literaten zu sein. Man bleibt auch im Netz in Fragen der Produktion und Rezeption mehr oder minder unter seinesgleichen. Es scheint sich zu wiederholen, was schon für Leihbüchereien galt: dass alle hin können, aber nicht alle wollen. Und dass der Zugang zu den Sprachen der Literatur weit früher gelegt sein will und keineswegs vom faktischen Zugang zu den Ressourcen abhängt.

Adieu, Karoline-von-Günderode-für-alle-und-zwar-umsonst? Adieu, Harlem-Renaissance in proletarischen Wohnstuben? Das wäre ein allzu defätistischer Abgang. Glücklicherweise sind die sozialen Grenzen nicht gar so fest in Stein gemeißelt und zudem ist die Lektüre von klassischer Literatur an sich noch kein Garant für ein aufgeklärtes Subjekt. Besprechungen von kanonisierter Literatur, zumal im Internet, bewegen sich in der Grauzone zwischen Literaturwissenschaft und Unterhaltungsmedien und erhöhen somit durchaus die Chance, dass jemand, der einmal über sie stolpert, sich festliest und ein Vergnügen kennenlernt, das ihm bisher versagt war. Sich von solchen Besprechungen die Überwindung der Klassengesellschaft zu erhoffen, wäre allerdings verfehlt.