Wider die Ordnung

Einige Überlegungen zu Thomas Bernhards 80. Geburtstag

Von Bernhard JudexRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Judex

Es ist ein später Abend im Oktober. Bei einem Glas Rotwein lese ich wieder einmal Thomas Bernhards Erzählung „Amras“, seinen von ihm selbst am meisten geschätzten Text. Ich sitze in meinem kalten Zimmer in Altmünster – auch so eine „Einsamkeitszelle“ (Jens Tismar), wie sie Bernhards Figuren teils unfreiwillig, teils bewusst aufsuchen. Die „vor lauter Finsternis und Naturrätsel und Verstandeserschütterung taube […] verdrußerzeugende[…] Hochgebirgslandschaft“ verlagert sich gewissermaßen in das Voralpenland des Salzkammerguts, die „Tiroler Epilepsie“ wird zu einer gemilderten oberösterreichischen Variante. Dem Fernseher entsagend hielte ich es in meiner Wohnung ohne ein Buch gar nicht aus. Thomas Bernhard blickt mich dabei vom Buch-Cover – es ist das schon ziemlich zerlesene rote Suhrkamp Taschenbuch 1506 – mit einem ironischen Lächeln gewissermaßen herausfordernd an.

Als ich diese Zeilen vor über fünf Jahren als Gedankenspiel verfasste und damit einen kleinen Essay beginnen wollte, der bis heute ungeschrieben geblieben ist, hatte ich mich mit dem Schriftsteller Johannes Freumbichler (1881-1949), Bernhards Großvater mütterlicherseits, beschäftigt. Ich ordnete und bearbeitete damals dessen schriftstellerischeren Nachlass, der gemeinsam mit dem des Enkels im Thomas-Bernhard-Archiv in Gmunden aufbewahrt wird. In den vergangenen Jahren forschte ich wieder intensiver an Thomas Bernhard. Eine Nähe, der der österreichische Autor selbst wohl mit Distanz und Skepsis begegnet wäre.

Bei der Arbeit trifft man ‚naturgemäß‘ eine Menge kulturell aufgeschlossener Leute, die einen manchmal fragen, „Was würde Thomas Bernhard zu allem, was heute mit ihm passiert, selbst sagen?“ oder „Was interessiert Sie eigentlich an Bernhard so sehr?“ Es sind Fragen, auf die eine Antwort teilweise schwerfällt, will man sie nicht bloß lässig abtun. Ein ‚Abarbeiten‘ an einem Schriftsteller ist es jedenfalls nicht; das hat mich seit jeher eher abgeschreckt. Vielmehr ist es eine wechselnde Faszination, die Entdeckung, dass es noch viele offene Fragen gibt, die nicht nur Bernhard, sondern auch die österreichische Literatur betreffen – etwa das Schreiben und dessen Produktionsbedingungen nach 1945, oder die zum Teil äußerst spannenden unveröffentlichten Texte aus Bernhards Nachlass aus den 1950er- und 1960er-Jahren, die für die Forschung noch zu entdecken sind. Sie zeugen von einer durchaus individuellen, kaum vergleichbaren schriftstellerischen Genese eines Autors von Weltruhm.

Thomas Bernhard war und ist eine Person des öffentlichen Interesses. Als Schriftsteller hat er mit Erfolg publiziert, so dass die Nachwelt über ihn und sein Werk unausgesetzt diskutiert, seine Stücke spielt, Texte liest, Vorträge und Symposien abhält und Ausstellungen organisiert. Ganz abgesehen von der Sekundärliteratur über ihn, die beinahe wöchentlich um eine Diplomarbeit, Dissertation oder Neuerscheinung ergänzt wird. Nach wie vor gibt es zahlreiche spannende Kontroversen um den Menschen Bernhard und seine Literatur. Freilich haben sich aus der zeitlichen Distanz bestimmte Akzente und Fragestellungen verschoben. Doch die Begeisterung für sein disparates, weil schwer einzuschätzendes Werk und manche Widersprüchlichkeit ist nach wie vor spürbar. Die intensive Rezeption der zuletzt bei Suhrkamp erschienenen Bände „Meine Preise“ (2009) und „Der Wahrheit auf der Spur“ (2011) sowie des Briefwechsels mit dem Verleger Siegfried Unseld (2009) dokumentieren diese Faszination eindringlich. Dabei ist es Aufgabe der Forschung, nüchtern zu bleiben, die wesentlichen Fakten zu vermitteln, Vorurteilen und schnell gefassten Meinungen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten, die den Kulturbetrieb und -journalismus beeinflussen, zu begegnen und zu widersprechen – was nicht heißen muss, sich einer persönlichen Meinung zu enthalten.

Ist es beispielsweise in der österreichischen Literatur tatsächlich „mit Handke und Bernhard wie mit den Beatles und den Stones: man steht immer auf einer Seite“? So zumindest lautete eine vor nicht allzu langer Zeit in der „Welt“ ausgesprochene These (Alexander Schimmelbusch: „Handkes unergründlicher Hass auf Bernhard“), der Thomas Kramar in der österreichischen „Presse“ zu Recht schlüssig widersprach und dazu lakonisch meinte, es mache eben „Spaß, an kulturellen Denkmälern zu kratzen“ (Thomas Kramar: „Peter Handke oder Thomas Bernhard? Kein Vergleich!“). Dass sich Handke und Bernhard, seit den 1970er- und 1980er-Jahren weit über die Grenzen ihrer Heimat hinaus die bekanntesten zeitgenössischen österreichischen Schriftsteller, nicht besonders mochten, zumal sie im selben Verlag publizierten, ist längst kein Geheimnis mehr und erschließt sich nicht zuletzt aus Bernhards Briefwechsel mit Unseld. Das war, zu Beginn des großen Erfolgs beider Schriftsteller, noch anders gewesen, etwa als Bernhards Erzählung „Midland in Stilfs“ 1969 in dem von Handke herausgegebenen Band „Der gewöhnliche Schrecken. Horrorgeschichten“ erschien. Ein Einladungsbrief Handkes an Bernhard, bei der Publikation mitzuwirken, existiert im Gmundener Archiv. Wer das Verhältnis zwischen Bernhard und Handke im Kontext der österreichischen Literatur übrigens durch den Blick eines profunden Kenners nachvollziehen möchte, der sei auf Karl Wagners ebenfalls in der „Presse“ erschienenen Essay verwiesen (Karl Wagner: „Der Glücksfall“); und könnte, einmal auf den Geschmack gekommen, aus Franz Schuhs Vergleich zwischen Bernhard und Ernst Jandl ebenfalls einiges über die österreichische Literaturszene lernen (Franz Schuh: „Der Busek hat nichts zu sagen“).

Es ist in Bernhards literarischer Entwicklung überhaupt interessant zu beobachten, mit wie vielen Autoren und Autorinnen er in den 1950er- und 1960er-Jahren noch persönlich Kontakt hatte, doch mit wie wenigen er später eine kollegial-freundschaftliche Beziehung bis zuletzt pflegte. Es waren kaum solche darunter, von denen dem Einzelgänger unmittelbare Konkurrenz – wie von Handke – zu erwachsen drohte. So etwa gehörten Joseph Breitbach, Wolfgang Koeppen oder auch Hilde Spiel, zu der tatsächlich eine Freundschaft bestand, sowie der frühe Förderer Carl Zuckmayer einer früheren Generation an, die Bernhard nicht ‚gefährlich‘ werden konnte. Anders Elias Canetti, der zwar ebenfalls unmittelbar nach 1900 geboren wurde, doch durch seine erfolgreiche Autobiografie, die zeitgleich mit jener Bernhards erschien, für diesen spürbar zum Kontrahenten wurde (vergleiche Thomas Bernhards Leserbrief „Schriftstellerberuf heute. Die Komödie der Eitelkeit in der „Zeit“, der auch in „Der Wahrheit auf der Spur“ abgedruckt ist). Ingeborg Bachmann siedelte sich glücklicherweise nicht in Oberösterreich an – kurzfristig dachte sie jedoch daran, dort wie Bernhard ein Haus zu erwerben: Wer weiß, ob so viel Nähe ihrer Freundschaft zu Bernhard gut getan hätte. So aber setzte Bernhard der bereits 1973 Verstorbenen in seinem Roman Auslöschung (1986) in der Figur der Dichterin Maria ein literarisches Denkmal.

Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass Bernhard gerade zu Beginn seines Schreibens von zahlreichen international angesehenen Schriftstellern und Philosophen verschiedener Epochen maßgeblich beeinflusst wurde. Ihre Namen zu nennen, käme einer Tour de force durch die europäische Geistesgeschichte der Moderne gleich. Eklektiker Bernhard ging es aber niemals darum, sich Wissen anzulesen, vielmehr entdeckte er in manchen dieser Autoren geradezu Geistesverwandte, deren Sätze für ihn Welthaltigkeit erlangten: Antonin Artaud, Georg Büchner, Fjodor Dostojewskij, Heinrich von Kleist, Michail Lermontov, Novalis, Michel de Montaigne, Blaise Pascal, Arthur Schopenhauer, Adalbert Stifter, Anton Tschechow… (Vergleiche dazu etwa die Arbeiten von Oliver Jahraus; Tobias Heyl und Manfred Mittermayer. Auf der quasi gegenüberliegenden Seite, der von Bernhard beeinflussten und in seiner Nachfolge schreibenden Autorinnen und Autoren, ließe sich ebenfalls eine ganze Reihe bekannter (wie auch weniger bekannter) Namen anführen: Louis Begley, Hermann Burger, William Gaddis, Imre Kertész, Andreas Maier, Thomas Meinecke, Margit Schreiner oder Josef Winkler, um auch hier nur einige von ihnen zu nennen (vergleiche hier die Arbeiten von Klaus Zeyringer und Uwe Betz).

Man ist und bleibt für solche Wahrnehmungen sensibilisiert, arbeitet man intensiv an einem Schriftsteller und seinen Texten. Man ist empfänglich für alles, was auch nur den Anschein einer Nähe zu Person und Werk aufzuweisen vermag. Der äußerst erfolgreiche Schriftsteller Thomas Bernhard, so heißt es in meinem anfangs erwähnten Essay-Entwurf weiter, bewegt sich aus dem Schatten seines weitgehend erfolglosen Großvaters Johannes Freumbichler heraus, arbeitet sich frei durch das Schreiben, welches jedoch ohne die familiäre Konstellation und den Weg über die Krankheit undenkbar scheint. Letztere bildet – mit Novalis („Das Wesen der Krankheit ist so dunkel als das Wesen des Lebens“) – das Motto von „Amras“, so wie vieler anderer Texte. Der schreibende Großvater war Bernhards Lehrer und väterliche Instanz. Mit ihrer aufgesetzt wirkenden, verletzbaren Autorität, ihrer Neigung zu Überempfindlichkeit, Krankheit und Selbstmord, aber auch dem unbedingten Willen zum Erfolg und Außerordentlichen – eine Spannung, aus der unweigerlich Wahnsinn resultieren musste –, war sie es, an der sich der junge Bernhard messen konnte. Auf den ersten Seiten seiner autobiografischen Erzählung „Ein Kind“ hat Bernhard die Ambivalenz im Fühlen und Denken des Großvaters sowie seine eigenen Idiosynkrasien zum Ausdruck gebracht. Der hier imaginierte Einsturz der Eisenbahnbrücke bleibt eine bloß denkbare Möglichkeit, theoretisch – so wie die Beschäftigung mit den Schriften revolutionär gesinnter Dichter und Philosophen. „Mit Sprengstoff könne man alles vernichten, wenn man nur wolle. In der Theorie vernichte ich jeden Tag alles, verstehst du […]. Ich vernichte, wann ich will. Aber die Theorie ist nur die Theorie, sagte mein Großvater, dann zündete er sich die Pfeife an.“

Bernhard zeigt in diesem Bild das Scheitern nicht nur des Großvaters, sondern des Menschen überhaupt, speziell in der Moderne, auf. Das letztlich kleinbürgerliche Idyll des im Ohrensessel Pfeife rauchenden und Zeitung lesenden Patriarchen, der den möglichen Einsturz des Weltgebäudes aus sicherer Distanz beobachtet, wird zu einem fixen Bestandteil der Bernhard’schen Literatur. Dass er im Welttheater die Lacher auf seiner Seite hat, ist verständlich, sind uns seine tyrannischen Figuren mit ihren geistigen Kopfgeburten doch in Wahrheit sehr ähnlich. Bernhards ironischer Blick auf dem Foto des „Amras“-Covers spiegelt etwas von diesem Wissen wider. Er verrät aber zugleich die Distanz, die er sich dem Großvater als Unterdrücker der Familie, insbesondere der Frau und Tochter, Bernhards Mutter, gegenüber erarbeitet hat. Als Kind ist die Nähe zu dem Großvater für Bernhard entscheidend. Auch Freumbichler vertrat letzten Endes die Ansicht, „daß der Poet die Natur besser verstehe als selbst der gelehrteste wissenschaftliche Kopf“, wie Günter Blöcker in Anspielung auf Novalis zu Bernhards „Amras“ schreibt.

Bernhard lebt durch sein Schreiben weiter, es garantiert ihm sein Überleben und überlebt ihn. Bernhards Botschaft, sofern es diese überhaupt gibt, ist vielleicht die des Widerstands des Subjekts in der Geschichte, ein Schreiben, das das Historische nicht ausschließt, sondern die Schrift als Gedächtnis und als Erinnerungsspur begreift.