Erstaunlich intensiv oder doch hoffnungslos überzogen?

Zu Paolo Giordanos Debütroman „Die Einsamkeit der Primzahlen“

Von Peter MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist leichter, Menschen zum Weinen zu bringen als zum Lachen. Das scheint sich auch Paolo Giordano gedacht haben, denn es ist keine leichte Kost, die uns der Autor mit seinem Erstling liefert. Bereits in den ersten beiden Kapiteln wird der Leser mit zwei schweren Schicksalen konfrontiert.

Alice soll zu einer erfolgreichen Skifahrerin ausgebildet werden. Diese entwickelt jedoch – aus Panik vor den Wettkämpfen, bei denen ihr ehrgeiziger Vater sie gerne gewinnen sehen würde – schnell eine Aversion gegen diesen Sport. Als sie an einem nebligen Tag in ihrer schweren und verhassten Skimontur die Piste betritt, überkommt sie, wie so oft, extremer Harndrang. Aus Furcht vor der Wut ihres Vaters zieht sich Alice in eine entlegene Ecke zurück, wobei es zu einem tragischen Sturz kommt. Ein in der Folge gelähmtes Bein zerstört sowohl die Hoffnungen des Vaters als auch Alices Chance auf ein ,normales’ Leben.

Mattia hat eine geistig zurückgebliebene Zwillingsschwester, die seinen Eltern und ihm einiges abverlangt. Ob ihres Verhaltens schämt er sich auch vor seinen Freunden und Klassenkameraden, weshalb er sich entschließt, seine Schwester Michela auf dem Weg zu einer Geburtstagsfeier auf einer Parkbank zurückzulassen. Er verspricht, bald zurück zu sein, doch Mattia vergisst die Zeit – Michela ist bei seiner Ankunft spurlos verschwunden und taucht nie wieder auf.

Natürlich bewegen diese Kindheitserlebnisse; es beschleicht den Leser aber auch das Gefühl, dass hier etwas sehr überzogen und bewusst auf die Tränendrüse gedrückt wird. Dieser Eindruck setzt sich auch in den folgenden Kapiteln fort, wirklich entziehen kann man sich dieser (an-)rührenden Geschichte dennoch nicht.

Bei beiden lösen die Traumata selbstzerstörerische Krankheiten aus. Alice leidet fortan an Bulimie, als Ausdruck ihres Besitz- und Bestimmungsanspruchs an ihren eigenen Körper, und Mattia am Borderline-Syndrom aufgrund seiner Schuld am Verschwinden oder Tod seiner Schwester. In der Schule führt das Leben beide zusammen und es entwickelt sich eine innige Freundschaft zwischen den leidenden Teenagern, wobei Mattia letztlich unfähig ist, Alices wachsende Gefühle zu erwidern. Alice findet Trost in ihrer Leidenschaft zur Fotografie sowie beim jungen Arzt Fabio, während Mattia in der Welt der Mathematik Zuflucht findet, bis es nach Jahren zu einem letzten Treffen kommt.

Wirklich neu ist die Geschichte zweier scheinbar füreinander bestimmter Menschen nicht, erstaunlich ist aber die Intensität, mit welcher der junge Autor in vielfältigen Bildern die Leiden, Gedanken und Gefühle der Protagonisten einfängt. Insbesondere bei Mattias mathematischer Weltsicht konnte Giordano aus eigenen Erfahrungen schöpfen, studierte er doch selbst Physik und promoviert derzeit über Teilchenphysik. Aber auch der Einblick in Alices Seelenleben gelingt ihm vortrefflich. Es überrascht also nicht, dass „Die Einsamkeit der Primzahlen“ die Kritiker überzeugte. Mit der Ehrung durch den Premio Strega wurde der 1982 in Turin geborene Giordano zum bis dato jüngsten Preisträger des renommierten Literaturpreises.

Etwas verwunderlicher erscheint, dass dieser eher beängstigende Roman – zeigt er doch an zwei drastischen Beispielen, wie eine einzige Fehlentscheidung das komplette weitere Leben eines Menschen prägen kann – auch zu einem Bestseller avancierte. Auf die Frage, ob „Die Einsamkeit der Primzahlen“ gerade deshalb so häufig verkauft wurde, weil der Roman die resignative Grundstimmung seiner Generation treffe, gibt der Autor in einem 2009 bei Spiegel Online veröffentlichten Interview eine zutiefst nachdenklich stimmende Antwort: „Die Traurigkeit der ‚Generation Praktikum‘ ist schlimmer als das Unglück meiner Protagonisten. Viele meiner Freunde haben wirklich keine Chance, egal wie glücklich ihre Kindheit war. Die Traurigkeit dieser jungen Leute ist nicht poetisch, sondern sehr real.“

Damit rückt Giordano auch die zu Beginn zwiespältigen Gefühle des Lesers zurecht. Die Anhäufung von Negativerlebnissen ist nicht etwa Kalkül, sondern bildet vielmehr die Trost- und Hilflosigkeit vieler Heranwachsenden in der heutigen Zeit ab – und das nicht nur in Italien. Dennoch lässt der Autor, wenn wir Alice und Mattia nach über zwanzig Jahren der Selbstfindung verlassen, an beider Horizont etwas auftauchen, das Mut zum Weiterleben gibt: die Perspektive, dass jeder Tag auch eine Chance zu einem Neuanfang bereithalten kann.

Titelbild

Paolo Giordano: Die Einsamkeit der Primzahlen. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Bruno Genzler.
Blessing Verlag, München 2009.
364 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783896673978

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