Michail Bachtin – ein neuer Zarathustra?

Über Sylvia Sasses Buch „Michail Bachtin zur Einführung“

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Bachtin‘schen „Außerhalbbefindlichkeit“ fing er an – jener Prozess der Entfernung des Autors aus dem Text, der mit dem von Roland Barthes 1967 verkündeten „Tod des Autors“ endete. Sylvia Sasse, die Autorin der beim Junius Verlag erschienenen Einführung in Leben und Werk von Michail Bachtin, deutet diese von Bachtin initiierte Entwicklung lediglich an und skizziert sie mit nur wenigen Strichen. Auch die folgenreiche Übernahme und Reformulierung von Bachtins Erbe im Zuge der Herausbildung des Intertextualitätsbegriffs und der Intertextualitätsforschung werden nur angerissen, höchstens summarisch dargestellt und kaum kommentiert. Es bleibt bei der Nennung einiger weniger Schlagworte. Die wichtigsten und schillerndsten davon sind die schon allseits bekannten: „Mosaik aus Zitaten“ (Julia Kristeva) und „Gewebe von Zitaten“ (Roland Barthes).

Im Gegensatz zu diesen schillernden Schlagworten verfällt Sasses Darstellung ins andere Extrem: Bachtins trotz schwerer Krankheit, Isolierung und Haft bewegtes und ereignisreiches Leben erreicht den Leser in einer starren und wenig ansprechenden Form, aus der sich jegliche Dynamik und Lebendigkeit verabschiedet haben. Sasses Diktion ist kahl und spröde, Bachtins sprühende intellektuelle Energie sowie das „Leben des Werkes“, bachtinianisch gesprochen, findet man in Sasses Buch nicht. Es ist ein Buch ohne Herzschlag geworden.

Genau das Gegenteil findet sich bei Alexander Etkind, der sich im 10. Kapitel seines brillant geschriebenen Buches „Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Russland“ (dieses Buch wird auch von Sylvia Sasse herangezogen) hauptsächlich Bachtin zuwendet: „Nach der Revolution kehrte Michail Bachtin Petrograd den Rücken und ging in die vertraute Provinz: erst nach Newel, dann ins weißrussische Witebsk. Er hatte glücklicherweise die Gabe, überall, wo er sich niederließ, binnen kürzester Zeit einen ‚Kreis‘ von Leuten um sich zu versammeln, die ihm geistig nahestanden. Die Bachtin‘schen Zirkel hatten keine Strukturen; weder Statuten noch Sitzungsprotokolle sind überliefert. Heraus kamen bei diesen Runden, wo stundenlang diskutiert und viel Tee getrunken wurde, vor allem Ideen, die – ganz im Einklang mit dem dort herrschenden Geist – viele Väter hatten.“

Bei ihrer Erzählung über denselben Abschnitt aus Bachtins Leben speist Sasse den Leser mit spektakulär klingenden Superlativen aus einem Artikel Karl Schlögels in der „Zeit“ vom 19. Januar 2006 ab, die dazu noch einen unnatürlichen Kontrast zu ihrer eigenen Ausdrucksweise bilden: Witebsk sei damals für kurze Zeit zur „Hauptstadt der europäischen Kulturgeschichte geworden“ und habe als „ein Laboratorium von geradezu ekstatischer Produktivität etliche Genies der Epoche“ beherbergt.

Die Dynamisierung und Auflockerung der Darstellung wären nicht nur sinnvoll gewesen, um der für das Bachtin‘sche Opus typischen Dynamik und Offenheit zu folgen, sondern auch um die Schwierigkeiten zu überwinden, die sich im Umgang mit den recht ausgefallenen Begriffen Bachtins ergeben. Die Erklärung der Zentralbegriffe Bachtins ist Sasse trotzdem am besten gelungen, auch wenn man ihr zuweilen die Mühe bei der Definition und Erklärung von Begriffen wie „postupok“ (Handlung) oder „lazejka“ (Schlupfloch) anmerkt, was dann häufig längere und zum Teil unübersichtliche Ausführungen zur Folge hat wie beim Begriff „zaocnost“ (Uneinsehbarkeit).

Didaktisch womöglich hilfreich, aber auf Dauer ermüdend ist auch die Aufzählung von Merkmalen – etwa bei der Erklärung der Bachtin’schen Konzeption der Autorschaft, bei der Erläuterung des Polyphonen und noch ausgiebiger beim Karnevalesken. Durch diese Tendenz des Buches sowie durch zahlreiche andere Aufzählungen und die bloße Anhäufung von Fakten (Zum Beispiel: „Zunächst ein paar Daten […]“) wird der Leser zum passiven Empfänger des ausgebreiteten Wissens degradiert.

Sasse weist gelegentlich zwar auf manches Rätsel hin, hat es doch an Rätselhaftem in Bachtins Leben nicht gemangelt, aber den im Buch etwa mit der stereotypen Formel „Es ist erstaunlich […]“ registrierten „Rätseln“ fehlt es an Reiz und Zauber. Man hätte gern irgendeine kühne Spekulation der Autorin gelesen, dazu kommt es aber so gut wie nie – bis auf eine knappe, wenig aussagekräftige, blutarme Formulierung bei der Besprechung einiger gravierender Fälschungen in Bachtins Lebenslauf. Sylvia Sasse hält unerbittlich an ihrem ,Stoff‘ fest und gestattet sich keine Abweichungen. Bei all seiner didaktischen Ausrichtung geizt der Text allerdings auch mit Erklärungen – und dies bei den brisantesten Fragen: Warum greift der Westen Bachtins Werk so „gierig“ auf und warum gerade im Jahre 1967? Warum ist die Bachtin-Rezeption in Deutschland so spärlich im Vergleich zu anderen Ländern? Über den zwischen der russischen „Bachtin-Kunde“ und der „westlichen Aneignung“ Bachtins entbrannten ,Kampf um Bachtin’, sowie über dessen Ursachen und Ergebnisse erfährt man auch nichts. Verwunderlich ist zudem die Verlegung der Erklärung über das Wesen und die Tätigkeit der Organisation „Voskresenie“ in den Anmerkungsapparat am Ende des Buches, wurde Bachtin doch laut Sasse gerade wegen seiner Beteiligung an diesem Kreis verhaftet und angeklagt. Das komplexe und intransparente Netz intellektueller Gruppen und Organisationen, zu denen Bachtin in den 1920er-Jahren in Kontakt stand, sowie die verfängliche Frage nach der religiösen Grundierung der Ansichten Michail Bachtins, die zum Beispiel von den Bachtin-Forschern Katerina Clark und Michael Holquist in ihrem Buch „Mikhail Bakhtin“ (Cambridge, Massachusetts 1984) gründlich diskutiert wird, werden von Sylvia Sasse völlig im Dunkeln gelassen.

Sylvia Sasse, die sich in allen Forschungsdebatten über Bachtin bestens auskennt und die diese Kontroversen unablässig rekonstruiert, meidet Festlegungen und scheut sich davor, Partei zu ergreifen. So stellt sie die sehr strittige Frage nach der Intention von Bachtins Karneval-Buch in einem Entweder-Oder-Schema und im Konjunktiv dar, ohne Stellung zu beziehen. Dem überaus heiklen Problem nach Bachtins Verhältnis zum Marxismus geht die Autorin ganz aus dem Weg.

Selbst wenn Spannungsverhältnisse, Kontroversen und Dichotomien konturiert werden, vermisst man im Buch das Feuer der Meinungsverschiedenheit. Dies gilt insbesondere für den so zentralen und explosiven Bachtin-Lukács-Gegensatz, bei dem das Buch ebenfalls weder Spannung noch Faszination zu bieten hat. Auffallend ist hier, dass sich die Autorin gerade im Falle von Lukács wieder durch die Konjunktivform distanziert und sich auf die Autorität des bekannten Forschers Galin Tihanov beruft, dessen Buch „The Master and the Slave“ mit einem sehr fundierten und scharfsinnigen Vergleich der Ideenwelten Bachtins und Lukács‘ besticht.

Die Distanzierung und die Unsicherheit der Autorin kommen außerdem im häufigen Gebrauch von Wörtern wie „offensichtlich“, „sicherlich“, „zweifellos“, „eher“, „eigentlich“ zum Ausdruck. Stilistische Mängel trüben ebenfalls den Eindruck. Dafür sei ein Beispiel angeführt: „Erstmals veröffentlicht wird Zur Philosophie der Handlung erst 1986 in gekürzter Version, also erst nach der ersten Rezeptionswelle der Schriften Bachtins, die durch die Bücher über Dostoevskij und Rabelais dominiert wurde.“ Wiederholungen wären auch vermeidbar gewesen: So wird die Tatsache, dass Julia Kristeva 1967 Bachtin in Paris vorstellte, ganze drei Mal angeführt. Dass diese Fakten jedoch ohne weitere Begründung bleiben und dass die Folgen dieses Ereignisses vernachlässigt werden, wurde bereits erörtert.

Aus dem Vorhaben der Autorin, „Bachtins Denk- und Schreibweise in einem teils chronologischen, teils konzeptuellen Zusammenhang zu erfassen“, hat sich ein zwar informatives, aber keineswegs anregendes und ein nur halbwegs befriedigendes Buch ergeben. Das beiläufig erwähnte Diktum vom „Broken Thinker“ Bachtin kann der Leser nach der Lektüre nicht nachvollziehen. Ebenso irreführend und fehl am Platz ist der Vergleich Michael Bachtins mit Zarathustra zu Beginn des Buches. Die von Sasse durchgeführte Gleichsetzung des „In-die-Leere-Schreibens“ Bachtins und Zarathustras verkennt den völlig unterschiedlichen Status des Monologischen und Dialogischen bei Friedrich Nietzsche und bei Bachtin: Wo Nietzsche die monologische Kunst preist und sie zur „Musik des Vergessens [der Welt]“ erhebt (zum Beispiel in „Fröhliche Wissenschaft“ Nr. 367), ist Bachtins Konzept der Dialogizität eine Abrechnung mit dem nietzscheanischen „Pathos der Distanz“ und ein Aufruf zur Hingabe an die Polyphonie der Welt.

Abschließend und in Anlehnung an ein Wort Etkinds lässt sich über Sylvia Sasses Buch sagen: Es vermittelt Wissen über Bachtin, Bachtins „geistiges Antlitz“ hat es aber nicht gezeigt.

Titelbild

Sylvia Sasse: Michail Bachtin. Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2010.
222 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783885066590

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch