Der Maler des Lichts

Uta Neidhardt hat einen Ausstellungskatalog über Johannes Vermeers Weg vom Frühwerk zu den späteren Interieurbildern im Kontext der Delfter Malerei im 17. Jahrhundert herausgegeben

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Dresdener Gemäldegalerie „Alte Meister“ besitzt drei frühe Bilder des jungen Johannes Vermeer aus den Jahren 1653 bis 1656, die man nach ihrer Restaurierung zusammen mit anderen in einer thematischen Ausstellung der Öffentlichkeit wieder präsentieren wollte. Aus anderen renommierten Museen holte man sich weitere bedeutende Vermeers, so die „Diana und ihre Gefährtinnen“ und „Christus bei Maria und Martha“ aus dem „Mauritshuis“ in Den Haag und der „National Gallery of Scotland“ in Edinburgh. Um Vermeers Entwicklung vom Früh- zum Spätwerk verständlich zu machen, bettete man ihn in die Delfter Malerei des 17. Jahrhunderts ein, die durch eigene Bestände wie durch weitere Leihgaben vorgestellt wurde. In Dresden selbst ist Vermeers berühmtes Gemälde „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ zu Hause, das man in einer Präsentation aus Möbeln und Kunstgewerbe in sein zeitgenössisches Ambiente setzte. So ist eine wunderschöne Ausstellung entstanden, die die Besucher in Scharen anzog und ihre Herzen höher schlagen ließ.

Denn Vermeers Kompositionen und vor allem seine Lichtführung haben ihn zu einem der heute weltweit bekanntesten Maler gemacht. Seine Bilder sind in ein mildes, aber alles offenbarendes Licht getaucht oder besser: sie werden von Licht durchflutet. In unfehlbarer Sicherheit vermag er seinen Gestalten einen Gegenstand nach dem anderen zuzuordnen. Seine Palette drückt sich in einer kühlen Farbskala, den gedämpften Gelb- und Blautönen, dem Schimmer von Gold und Grau aus, das im Schwarz verankert ist. Und seine Gemälde sind von einer unbeschreiblichen Stille, so dass selbst dem Betrachter der Atem stockt.

Der von der Kuratorin Uta Neidhardt herausgegebene Katalog „Der frühe Vermeer“ beschäftigt sich in einer Reihe von Aufsätzen mit dem jungen Vermeer, seiner Ausbildung, Entwicklung und seinen Inspirationsquellen ((Edwin Buijsen), seinem Aufrücken „an die Spitze des Pantheons“ der holländischen Kunst (so Albert Blankert), seiner enthusiastischen Wiederentdeckung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – sie ging einher mit dem Aufkommen der impressionistischen Bewegung – (wieder Edwin Buijsen) und seiner Zuordnung zur Delfter Malerei (im Aufsatz Jasper Kettners). Uta Neidhardt setzt sich mit Vermeers „Kupplerin“ und dessen „Brieflesendem Mädchen am offenen Fenster“ auseinander, Christoph Schölzel spürt dem Entstehungsprozess der „Briefleserin“ nach und untersucht Vermeers Maltechnik, Rainer Groh und Daniel Lordick geben Anmerkungen zur Rekonstruktion des Raumes in der „Briefleserin“, Michael Franses hat sich das Sujet ,Orientalische Teppiche auf Gemälden Vermeers‘ vorgenommen, Ivo Mohrmann und Thomas Scheffler berichten über die Rauminszenierung des „Brieflesenden Mädchens“ an der Hochschule für Bildende Künste Dresden und Juliane Gatomski reflektiert angesichts der als Bildpaare entstandenen Gelehrtenbilder „Der Astronom“ (1668) und „Der Geograph“ (1669) über den Stand und Paradigmenwechsel der niederländischen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert.

Das kommentierte Werkverzeichnis enthält neben den Gemälden Vermeers auch die seiner niederländischen und europäischen Malerkollegen, darunter Gerard ter Borch, Pieter de Hooch, Paulus Potter, Jan Stehen und Emanuel de Witte, also Zeitgenossen, die für ihn von Bedeutung waren und für die er von Bedeutung gewesen ist, auch spätere Wiedergaben des „Mädchens am Fenster“ beziehungsweise deren Übersetzungen in die Druckgrafik, Gläser, Teller, Fayencen, Mobiliar, Gewänder, wissenschaftliche wie Zeichen-Instrumente, Globen, Uhren, wie sie in Vermeers Bildern als signifikante Gegenstände immer wieder zu finden sind. Denn der Maler brillierte in der Darstellung von Stofflichkeit, Materialien und ihren Lichtreflexen.

Im Mittelpunkt von Ausstellung und Katalog stehen die vier wichtigen Gemälde Vermeers. Sein Können erprobte der junge Maler zunächst auf dem Gebiet der Historienmalerei. In „Diana und ihre Gefährtinnen“ (um 1653/1654) rastet die mit einem Halbmonddiadem geschmückte Jagdgöttin Diana – sie galt als Inbegriff der Keuschheit – mit ihren Begleiterinnen, wobei jede ihren Beschäftigungen nachgeht. Vermeer hat das Thema Ovids „Metamorphosen“ entlehnt. War das Thema der Jagdgöttin Diana wegen der Darstellung der Nacktheit besonders beliebt, so lässt sich bei Vermeer eher eine Tendenz der Prüderie feststellen. Auf der abendlichen Szene lastet eine drückende, melancholische Stimmung. Doch ein weiches, unbestimmtes Licht lässt die Frauengestalten stärker hervortreten. Ist das dominierende Motiv des Fußwaschens als Symbol der Reinheit, der Sittenstrenge und des Schamgefühls zu verstehen oder muss es mit der Fußwaschung Jesu durch Maria Magdalena beziehungsweise der Christi an seinen Jüngern vor dem letzten Abendmahl in Beziehung gesetzt werden? Anregungen für sein Bild kann Vermeer durch den Amsterdamer Maler Jacob von Loo erhalten haben, dessen Gemälde „Diana mit ihren Nymphen“ (1646) die Göttin in der gleichen Sitzhaltung zeigt.

Das biblische Gemälde „Christus bei Maria und Martha“ (um 1654-1655) weist ein ähnliches Kompositionsschema auf: Der dominant im Bild befindliche Christus hat einen Arm zu der ihm zu Füßen sitzenden Maria ausgestreckt, während er sich mit dem Kopf der hinter dem Tisch stehenden Martha zuwendet. Das „Spiel aus Mimik und Gestik“ (Uta Neidhardt) belebt diese Dreier-Gruppe, in der Vermeer eine besondere Tiefenwirkung erzielte. Er hat die Farben mit breitem Pinsel aufgetragen und bevorzugt kräftige, intensive Farbkontraste. So hebt sich das grelle Weiß des Tischtuchs markant vom Dunkelblau des Gewandes Christi und dem Zinnoberrot der Bluse Marias ab.

Das Gemälde „Bei der Kupplerin“ (1656) stellt dann die Verbindung zwischen den vorangegangenen frühen Historienbildern und den klassisch zurückhaltenden, lichtdurchfluteten Interieurs nach 1657 dar, für die er berühmt geworden ist. Eine Genreszene, ein „Bordellbild“ bietet sich dem Betrachter: Der Freier in roter Jacke hat seine Hand besitzergreifend auf den Busen des in Gelb gekleideten Freudenmädchens gelegt, das ein Weinglas in der Linken hält, während er mit der Rechten eine Münze in ihre geöffnete Hand drückt. Wachsam wird die Zahlung von der im Hintergrund stehenden, schwarz gekleideten Alten, der „Kupplerin“, verfolgt. Als Vermittler hat aber wohl der Musiker im historisierenden Kostüm fungiert, der sich an den linken Rand zurückgezogen und von der Gruppe abgesondert hat und der nun als einziger in Blickkontakt zum Betrachter getreten ist. Mit dem Trinkgefäß in der Hand scheint er nach der erfolgreich verlaufenen Aktion die Rolle des „Erzählers“ übernommen zu haben. Ihm ist wohl mehr das Vergnügen am Reiz des Verbotenen anzusehen, als dass er vor Alkohol, Betrug und Sittenverfall warnen will.

Das erste von sechs Gemälden, in denen sich Vermeer mit dem Thema des Brieflesens oder -schreibens auseinandersetzte, ist das „Brieflesende Mädchen am offenen Fenster“ (um 1657-1659). Ein Vorhang auf der rechten Seite verdeckt zu einem Drittel den ebenso hohen wie tiefen Raum und scheint uns auch den Zugang zu dem Bild zu verwehren. Was in dem brieflesenden Mädchen im strengen Profil vorgeht, dringt nicht nach außen, vollzieht sich nur in ihrem Innern. Dagegen mag das offene Fenster – zusammen mit dem Brief – wohl den Wunsch der jungen Frau veranschaulichen, aus der häuslichen Enge auszubrechen und in Kontakt zur Außenwelt zu treten. Vermeer hat Einrichtungsstücke und stillebenhafte Zutaten in diesem Bild mal ergänzt und mal wieder entfernt (so hat er eine Cupido-Darstellung an der Rückwand des Zimmers, der auf die Lektüre eines Liebesbriefes hinweisen sollte, wieder übermalt) und die Position des Mädchens im Raum verändert.

Wie Christoph Schölzel in seinem Beitrag nachweist, ist der Künstler den Weg von einer gewissen Offenheit zu zunehmender Verhüllung und Abgeschlossenheit der Darstellung gegangen. Denn das damals so beliebte Liebesbrief-Motiv hatte keineswegs einen nur harmlos-anekdotischen Charakter. Die Briefkultur ermöglichte es in dieser Zeit wachsenden Bildungsstandards vielen Frauen aus dem Bürgertum, ihre Gefühle dem Papier anzuvertrauen. Wenn ein Briefpartner aber bereits verheiratet war, ergab sich damit auch die Gefahr, anhand solcher Schriftzeugnisse überführt werden zu können.

Vermeers Vorliebe für wohlausgewogene Flächendispositionen, sein Verfahren, komplexe Strukturen auf wenige Elemente zu reduzieren (dabei spielt die Geometrie eine wesentliche kompositorische Rolle), seine Art der Lichtbehandlung, bei der fast schon Pleinair-Wirkungen erreicht werden und die Schatten in farbigem Schimmer erscheinen, überhaupt seine einzigartige Weise des Farbauftrags, die sich erheblich von der in den Niederlanden damals verbreiteten porzellanhaft-glatten „Feinmalerei“ unterschied, machten den Maler zu einer schon in seiner Zeit singulären Erscheinung. Das eigentliche Geheimnis aber, das wohl immer ungelöst bleiben wird und doch immer wieder von Neuem bezaubert, ist die Macht von Vermeers unfehlbarem Gespür für kühle Farben und für Harmonie, seine Fähigkeit, lichtdurchflutete Räume zu schaffen.

Titelbild

Uta Neidhardt (Hg.): Der frühe Vermeer. Anlässlich der Ausstellung vom 3. September bis 28. November 2010 in der Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.
Deutscher Kunstverlag, Berlin ; München 2010.
184 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783422070387

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