Symptome einer Welt

Über Ulrich Peltzers Frankfurter Poetikvorlesungen „Angefangen wird mittendrin“

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Geschichte beginnt nicht am Anfang, sondern in der Mitte, zumindest, wenn es um das Schreiben geht. Diese Überlegung vertritt der in Krefeld geborene und in Berlin lebende Autor Ulrich Peltzer. Im Rahmen der „Frankfurter Poetik-Vorlesungen“ stellte er im Wintersemester 2010/2011 seine Überlegungen über das Schreiben und Lesen zur Diskussion.

Vorab dazu erschien bereits die als Buch veröffentlichte Version seiner Vorlesungsreihe „Angefangen wird mittendrin“. Die umfassenden Kapitel aus dem fünfteiligen Vorlesungszyklus enthalten neben biografischen Anekdoten des Autors eine Reise in die Weltliteratur. Der Leser ist mitten in einer prosaischen Welt, welche ihn nicht mehr los lässt. Wenn Peltzer über James Joyce’ „Ulysses“ und „Finnegans Wake“, Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, Mark Twains „Huckleberry Finn – ein Buch, das Peltzers erster Kauf von seinem Taschengeld war – oder über Franz Kafka schreibt, macht er den Leser nicht nur neugierig, sondern reißt diesen in den Sog der jeweiligen literarischen Welten, sodass man sofort nachlesen möchte, wenn nicht gar muss. Egal ob Joyce, Defoe oder Twain, eingestiegen wird mittendrin. Alles rund herum wird erarbeitet.

„Die Dinge von der Mitte her zu sehen, also nicht von oben auf sie herab- oder von unten zu ihnen hinauszublicken, sich ihnen weder von links noch von rechts zu nähern (nähern zu können), macht es nicht gerade einfach, sie zu erfassen, etwa ihren Ursprung und Zweck zu benennen, was heißt, ihnen eine Art Ordnung zu unterlegen“, schreibt Peltzer

Primär geht es jedoch nicht darum, Ordnung herzustellen, sondern „die Symptome einer Welt zu lesen“. Dabei scheint Peltzer nahezu in gleicher Intensität Informationen beim Lesen zu verarbeiten wie beim Schreiben. Beide Arbeitsvorgänge können parallel laufen, da sich das Schreiben aus dem Lesen entwickelt. Da ist man plötzlich im Verarbeiten der Information, in der Geschichte – mittendrin im Schreibprozess. Dies ist deshalb wichtig, da im Vordergrund nicht das Produkt selbst steht, sondern die prozesshafte Aushandlung des Lesers. „In der Eingangssequenz plötzlich da, ein Sprung aus dem Nichts in den Text, mitten hinein in ein Gespräch, das wir lernen können zu lesen.“ Gefordert ist letztendlich der Leser, welcher die Geschichte erst erwachen lässt.

Dem zyklischen Denken Peltzers geht Giambattista Vicos Theorie aus seinem Werk „Scienza Nuova“ voraus. Hier ist auch die Verknüpfung zu Joyce, welcher ebenso von der Lektüre Vicos begeistert war und diese in „Finnegans Wake“ einarbeitete. Vicos grundlegenden Überlegungen zum Kreislauf der Dinge geht auf die Idee zurück, dass eine Philosophie und Philologie des Menschen existiert, welche nationale Historien, ihr Aufstieg, Fall und neuerlichen Aufstieg, nachzeichnen könne. Daraus ergibt sich die Unabgeschlossenheit, welche in jedem einzelnen Wort ruht. Denn alle sprachlichen Benennungen tragen alte Bedeutungen mit sich, welche man entschlüsseln muss, um etwas über die Vergangenheit zu erfahren. In diesem Zusammenhang wird der Leser zum Fährtenleser, also zu jemand, der es vermag, außerhalb der gedruckten Wörter, eine Geschichte zu lesen. In diesem Zusammenhang wird William Gaddis zitiert: „a book is a collaboration between the reader and what is on the pages“.

Peltzer zeigt, mittels seiner Schreib- und Leseerfahrung, welche Geschichten zwischen den Zeilen existieren können. Dabei verweist er auch auf Kafka, welchen das „Eigenleben“ der Sprache in seinen Texten nicht immer produktiv begleitete.

„Angefangen wird mittendrin“ führt vor Augen, dass es beim Schreiben um Reflexion und Kritik geht, zumindest in der Moderne: „Von der Peripherie, von Randzonen zu erzählen und dabei deren Perspektive einzunehmen, sich also einem verdrängten oder denunzierten Alltag zuzuwenden und die Un-Erhörten, die in die Stummheit verbannten sprechen zu lassen, sprechend machen (was weder nachäffen bedeutet, noch sie in Objekte verwandeln, in Mitleidsgestalten, ,edle Wilde‘ oder gar ,Hoffnungsträger‘), scheint mir maßgebliche narrative Strategien der Moderne nicht ganz unzutreffend zu beschreiben“.

Peltzer schreibt sich in den Vorlesungen mitten in eine Suche nach einer Syntax der Sprache. Eine Suche, die nicht enden kann, da sie zyklischen Charakter hat. Es kann nicht mehr lange dauern, bis er sein neues Buch vorlegt.

Titelbild

Ulrich Peltzer: Angefangen wird mittendrin. Frankfurter Poetikvorlesungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
170 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783100608062

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