„Verwegene Lebensmelange“

Ein kritisches Nachwort zur Debatte um Karl-Theodor zu Guttenbergs „Dissertation“, nebst einer einführenden Erinnerung an den ehrlichen Vielschreiber Karl Gutzkow (1811-1878), dem die März-Ausgabe von literaturkritik.de gewidmet ist

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Anstatt des an dieser Stelle üblichen Editorials seien einige resümierende Bemerkungen zum Fall des soeben zurückgetretenen Bundesverteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) erlaubt. Zu sehr hat die Debatte die vergangen Wochen bestimmt, und zu viel Hohn mussten Akademiker wie wir, die wir zum Beispiel an der Philipps-Universität in Marburg die vorliegende Zeitschrift machen, in dieser Zeit einstecken – nicht zuletzt durch die deutsche Regierung, die einen überführten Dieb geistigen Eigentums allzu lange mit skandalösen Verharmlosungen deckte.

Man wird ja wohl noch darauf antworten dürfen: Dies alles ist mit der Aberkennung von Guttenbergs „Doktortitel“ nicht erledigt, nicht mit seinem Rücktritt und schon gar nicht mit jenen Abschieds-Worten über seinen angeblichen „Anstand“, mit denen er zuletzt sein langes Hinauszögern dieser Entscheidung noch einmal zu rechtfertigen suchte: „Nachdem dieser Tage viel über Anstand diskutiert wurde, war es für mich gerade eine Frage des Anstands, zunächst die drei gefallenen Soldaten mit Würde zu Grabe zu tragen und nicht erneut ihr Gedenken durch Debatten über meine Person überlagern zu lassen. Es war auch ein Gebot der Verantwortung gegenüber diesen und ja gegenüber allen Soldaten.“

Womit wir auch schon beim Thema dieses Kommentars wären: Guttenbergs Sprache. Man sollte vielleicht nach alledem einfach noch einmal in Ruhe nachlesen, was der Mann in seiner inkriminierten „Doktorarbeit“ zu Beginn tatsächlich selbst schrieb: „Allzu viele mussten meine verwegene Charakter- und Lebensmelange ertragen und ich bin allen überaus dankbar für unbeugsame Gelassenheit. Gleichwohl: Wirkliche Besserung ist kaum absehbar.“

Diese blumig formulierte Warnung konnten deutsche Wähler bereits seit 2009 jederzeit im Druck nachlesen, und sie sollten sie nun wenigstens für die Zukunft tunlichst im Gedächtnis behalten. Denn dass bei diesem Politiker „Besserung kaum absehbar“ ist, lässt sich ja an einem Satz wie dem soeben zitierten gut ablesen. Können Sie sich etwa vorstellen, wie eine „verwegene Charakter- und Lebensmelange“ aussehen soll? Was soll das sein – etwa ein privates Kaffee-Rezept? Und: Haben Sie jemals irgendwo die Kombination des Nomens „Gelassenheit“ mit dem Adjektiv „unbeugsam“ gesehen?

Natürlich nicht. Hier stammelt ein Politiker daher, den ein Großteil der Deutschen (also der „Bild“-Leser) als beeindruckenden und „gebildeten“ Redner wahrnimmt, obwohl er ganz offensichtlich nicht einmal der Sprache des Landes mächtig ist, das er nun seit Jahr und Tag mit breiter Brust vertreten hat. Merkwürdigerweise waren es nun zuletzt gerade diejenigen Leute, die Politiker ausschließlich in solchen nationalen Kategorien agieren und reüssieren sehen wollen, die Guttenberg trotz allem weiter blind verteidigten. Auffällig war, dass dies meistens mit dem irrationalen Hinweis auf die angeblichen Fehler anderer geschah: „Die Germanisten zum Beispiel schreiben doch auch bloß alles ab!“, hörte man jetzt plötzlich immer häufiger, oder auch: „Ich möchte mal wissen, wie die anderen promovierten Abgeordneten im Bundestag ihren Titel erworben haben – ich bin da ja nicht so sicher, was dabei so alles herauskommen würde!“

Alle diese Leute taten nun plötzlich so, als ob mögliche Vergehen anderer Personen die im Gegensatz dazu sehr wohl nachgewiesenen Verfehlungen Guttenbergs relativieren könnten. Was ist eigentlich mit der politischen Kultur dieses Landes los? Gerade erst war die Sarrazin-Debatte endlich abgeklungen, da überschwemmte uns nun also schon wieder die nächste Welle aggressiven Antiintellektualismus: So gesehen ist es nicht ohne Ironie, dass das entlarvende Dokument, um das es in den letzten Wochen so ausführlich in der Presse ging, im altehrwürdigen Berliner Verlag Duncker & Humblot erschien, dessen Wappen die lateinischen Worte „Vincit Veritas“ zieren: „Die Wahrheit siegt“.

Wie wir mittlerweile wissen, nahm es Guttenberg selbst mit der Wahrheit allerdings nicht ganz so genau. Tatsächlich müsste es jedem genügen, nur ein oder zwei beliebige Sätze dieses Mannes zu lesen, die dieser ausnahmsweise wirklich selbst geschrieben und nicht aus dem Internet kopiert hat, um zu begreifen, wie es um Guttenbergs so viel gerühmte Eloquenz bestellt ist. Was hier offen zu Tage liegt, sollte endlich einmal in den Fokus allgemeiner Aufmerksamkeit gerückt werden: Die unfassbare Ansammlung von Stilblüten und unsinnigen Wortgirlanden in Guttenbergs „Vorwort“ müsste wirklich nicht nur Wissenschaftler, sondern eigentlich jeden mündigen Staatsbürger, der noch halbwegs klar denken kann, in tiefe Sorge um die Zurechnungsfähigkeit ihres Autors stürzen. Immerhin taumelte dieser „fränkische Ölprinz“ (Svenna Triebler, „Konkret“) zuletzt als deutscher Verteidigungsminister auf der verzweifelten Suche nach dem „günstigen Augenblick der Entscheidung“, dem sogenannten „icaipöq (Kairos)“, wie ihn Guttenberg in seiner „Dissertation“ wiederholt mit großer Ergriffenheit aufruft, von Kontinent zu Kontinent, um für Soldaten „Verantwortung“ zu übernehmen – nicht nur auf der „Gorch Fock“, sondern zum Beispiel auch in Afghanistan.

Man kann es der Öffentlichkeit nach den vergangenen Wochen nicht oft genug einhämmern: Wenn Wissenschaftler eine Arbeit schreiben, gehen sie möglichst objektiv und planmäßig vor, wobei sie die Handhabung ihrer Hilfsmittel und theoretischen Grundlagen jederzeit transparent machen müssen. Eine akademische Arbeit kann man also nicht in der Lotterie gewinnen. Unter normalen Umständen entsteht eine solche Schrift in langjährigen und akribischen Recherchen und selbständigen Forschungen – wobei diese nur dann Geltung haben können, wenn in ihren Ergebnissen stets kenntlich gemacht wird, auf Basis welcher bereits von anderen aufgeschriebener und publizierter Vorarbeiten sie erzielt wurden. Wenn Erkenntnisse aus diesen Schriften referiert werden, müssen wörtliche Zitate stets auf das Penibelste und mit aller philologischen Genauigkeit als solche ausgewiesen werden. Wer sich nicht an diese elementarsten Basics hält, ist in der Wissenschaft sofort erledigt.

Guttenberg aber verrät in seinen einleitenden Sätzen seiner „Doktorarbeit“ zumindest schon einmal soviel darüber, wie er in seinem Fall agiert haben wollte: „Diese Arbeit entspringt einer ungewöhnlichen Verkettung von Glücksfällen. Oder nach anderem – im obigen Sinne untypischem – Verständnis der vereinzelten Wahrnehmung eines..Kairos’. [sic!]“ Wie genau diese ominöse „Verkettung von Glücksfällen“ zustande gekommen ist, die allein schon für sich genommen Zweifel an der wissenschaftlichen Leistung aufkommen lassen müsste, welche aus ihnen angeblich folgte und in Bayreuth mit der Bestnote summa cum laude bewertet wurde, wissen wir mittlerweile nur allzu gut: Guttenbergs „Dissertation“ ist eine an Dreistigkeit bislang wohl beispiellose Aneinanderreihung von Texten anderer AutorInnen, die er ganz einfach komplett aus dem Internet kopierte oder, was alles noch viel schlimmer machen würde, von Hilfskräften klauen ließ, wie man auf der verdienstvollen Website „Guttenplag“ nachvollziehen kann.

Über die Einzelheiten schweigt sich Guttenberg bislang jedoch weiter beharrlich aus und gibt nach der – aus früheren CDU-Skandalen hinlänglich bekannten – „Salami-Taktik“ tunlichst immer nur das zu, was ihm bereits zweifelsfrei nachgewiesen wurde. Oft aber auch nicht einmal das. Der Jurist Prof. Dr. Oliver Lepsius hat den Politiker jedenfalls im Bayerischen Rundfunk bereits offen als Betrüger bezeichnet.

Guttenbergs Reue hält sich, seinem Blender-Naturell gemäß, weiter merklich in Grenzen, denn nach wie vor spricht er nur von einer „fehlerhaften Doktorarbeit“. Dabei griff der Minister a. D. außerdem rechtswidrig auf den wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zurück, den er ganz pragmatisch für die Verfassung des einen oder anderen Kapitels seiner „Arbeit“ benutzte, wie man mittlerweile ebenfalls in mehreren Fällen nachgewiesen hat: Ein „Fehler“ unterläuft einem unbewusst, eine wissenschaftliche Täuschung wie diese aber ist logischer Weise nur bewusst durchführbar.

Guttenberg dankt in seinem Vorwort seinem Doktorvater „Prof. Dr. Dies. mult. h.c. Peter Häberle“, der nun den Rest seines Lebens mit folgendem Lob seines „legendären“ Seminars leben muss: „Der Gedanke an die Teilnahme umweht den Verfasser nicht nur während intellektuell dürftigerer Alltagserlebnisse dauerhaft – und erhält wenigstens den Anspruch höchster Qualität eigenen Gemurmels.“

Auch Häberle gab – wir erinnern uns – gegenüber der Presse genauso wie sein Schützling zunächst an, die Plagiatsvorwürfe seien „abstrus“, Guttenberg sei einer seiner besten Studenten gewesen. An letzterer Behauptung hielt Häberle übrigens auch nach seiner öffentlichen Kehrtwende fest, als er begriffen hatte, dass sein Verhalten auch der Universität Bayreuth schaden könne und er sich nachträglich von seinem Schüler distanzierte.

Doch ist da überhaupt noch irgend etwas wieder gut zu machen? Wieso sollte Guttenberg im Seminar bei Häberle eigentlich klüger daher geredet haben, als wir es von ihm aus dem Fernsehen kennen? Man lese den zuletzt zitierten Satz aus Guttenbergs Vorwort noch einmal in Ruhe: Haben Sie schon einmal Gedanken gesehen, die wie der Wind wehen? Wie „intellektuell dürftig“ kann das Alltags-„Gemurmel“ eines Ministers eigentlich sein? Wer das gesamte Meisterwerk geistiger Selbstentlarvung genießen möchte, kann das jetzt auch anhand einer liebvoll interpretierten Vertonung tun, die unter anderem bei YouTube zu finden ist.

Doch wollen wir nicht ungerecht sein. Dass das Verfassen von Texten welcher Art auch immer eine schwierige und auch zermürbende Sache sein kann, hat Guttenberg immerhin richtig erfasst: „Wie oft wurde der Kairos der Fertigstellung durch freiberufliche wie später parlamentarische ‚Ablenkung’ versäumt, bevor die Erkenntnis dieses traurigen Faktums einer bemerkenswerten Mischung aus eherner professoraler Geduld (wie Liebenswürdigkeit), sanftem, aber unerbittlichem familiären Druck und wohl auch ein wenig der beklagenswerten Eitelkeit weichen durfte.“

Halten Sie das jetzt im Kopf noch weiter aus? Keine Sorge, das soll vorerst genügen. Der Schriftsteller Karl Gutzkow, dessen 200. Geburtstag wir am 17. März 2011 feiern und um den es uns diesen Monat schwerpunktmäßig geht, konnte nämlich besser schreiben. Viel besser. Und er schrieb viel mehr Texte auf als irgendein Baron von und zu Guttenberg: Briefe, Zeitungsartikel, Dramen und vor allem: sehr, sehr lange Romane. Seine Familie musste dafür keinen „unerbittlichen Druck“ auf ihn ausüben, sondern ganz einfach nur still sein. Karl Neumann-Strela berichtet:

„Bevor er sich an den Schreibtisch begab, nahm er mit seiner Frau, einer Tochter des Buchhändlers Meidinger in Frankfurt, und seinen drei schulpflichtigen Töchtern das Frühstück ein. Dabei herrschte das größte Schweigen, um ihn nicht zu zerstreuen. Bis Mittag war er dann emsig tätig; jeder Besucher ward abgewiesen.“

Arno Schmidt, ein Schriftsteller, der nach 1945 aus dem Zitieren (nicht zu verwechseln mit dem Plagiieren!) eine große Kunst machte, rühmte Gutzkow unter anderem für seinen ca. 3.000-seitigen Roman „Der Zauberer von Rom“ (1861) und beschreibt dessen zermürbenden Entstehungsprozess in seinem Funk-Essay „Die Ritter vom Geist“ (1965) aus der Perspektive der Angehörigen: „Gutzkow schrieb im Sommer, von früh 6 Uhr bis abends zum Dunkelwerden. 1 Stunde vor Tisch zum Baden in der Elbe, wozu ich ihn abholen kam, und 1 kurze Mittagsrast bildeten die einzige Pause des ganzen Tages. Nach 21 Uhr erschien ich wieder, um ihn zu einem Spaziergange in den großen Garten zu begleiten […] – ich fand ihn oft wie gebrochen; und geistig so abgestumpft, daß er kaum zu gehen & nur mühsam an der Unterhaltung teilzunehmen vermochte. –“

Das waren Mühen, die sich zumindest finanziell für Gutzkow zeitlebens kaum lohnten, und auch seine Rezeption verlief bald im Sande. Schmidt war wohl der erste, der nach dem Zweiten Weltkrieg an den so gut wie vergessenen Schriftsteller und Erfinder des „Romans des Nebeneinanders“ erinnerte. Seither hat sich viel getan. Es gibt es seit einigen Jahren eine zugleich online und im Druck entstehende Neuausgabe von Gutzkows Werken, die wir Ihnen in der März-Ausgabe von literaturkritik.de anlässlich einer im März stattfindenen Tagung vorstellen möchten. Den Beiträgern und externen Co-RedakteurInnen sei an dieser Stelle für ihre Mühen ganz herzlich gedankt: Wie war das noch mit dem „großen Projekt, das im Angesicht des Hafens noch tragisch Schiffbruch erleidet“, wie Guttenberg es so unnachahmlich windschief in seiner Danksagung formuliert? Gewiss, Projekte sind sowieso keine Schiffe und können deshalb auch nicht vor einem Hafen untergehen, der zudem auch noch nirgendwo in der Welt jemals ein „Angesicht“ hatte. Doch Guttenbergs geistige und sprachliche Totalausfälle vermögen uns daran erinnern, wie schwer es ist, Texte zu verfassen, und wie viel Arbeit dies von ihren AutorInnen verlangt. Zum Beispiel auch von Literaturwissenschaftlern, die unserer Redaktion pünktlich ihre redlich und selbst geschriebenen Essays abliefern, und zwar selbstverständlich ohne dafür irgendwo abzuschreiben. Wer in Deutschland weiß das überhaupt noch wertzuschätzen?

Mit bestem Gruß
Ihr
Jan Süselbeck