Naturalistische Nahaufnahme

Anette Horn über Nietzsches Begriff der Décadence

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Horns Dissertation über Nietzsche liest, macht einen Ausflug mitten ins neunzehnte Jahrhundert. Dessen zeitgemäße Begriffe - "Wille", "Trieb", "Rasse" und "Instinkt" - heißen den Leser schon im Eingang des Buches willkommen. Sozialtheoretischer Organizismus, Sozialdarwinismus und biologistischer Sexismus gesellen sich dazu. Auch der Hauptgegenstand der Abhandlung ist Bestandteil dieses naturalistischen Diskurses: "Nietzsches Begriff der Décadence" steht zur Untersuchung. Und mit ihm sind Pathologien des Denkens und Handelns bezeichnet, die durchaus physiognomisch bestimmt werden. Dekadent sind die Kastraten, denen das instinktive Streben nach Macht und das im körperlichen Leiden verwurzelte agonale Denken abhanden gekommen sind: der Deutsche, der Jude, der Christ und nicht zuletzt der idealistische Philosoph.

Üblicherweise mag es gerade im Umgang mit hochproblematischen Episoden der Theoriegeschichte sinnvoll sein, vermittelnde Autoren einzubeziehen. Sie sollten in der Lage sein, eine Kontextualisierung und Übersetzung antiquierter Diskursstrukturen vorzunehmen und sowohl den sachlichen Gehalt als auch den legitimen Geltungsanspruch für den geneigten Leser herauszufiltern. Derartiges leistet die Autorin kaum. Weder eine klare historische Verortung gelingt ihr, noch verfügt sie über die notwendige Distanz, die für eine kritische Würdigung notwendig wäre. Insbesondere die Vernachlässigung des historischen Kontextes fällt ins Gewicht. Wer Décadence hört, möchte eine Beziehung zur ästhetischen Décadence hergestellt wissen. Die knappen Hinweise auf Wagner und Bourget, die über Nietzsche nicht hinausgehen, reichen da nicht aus. Man möchte zudem etwas über die Sozialgeschichte eben jener klassischen und romantischen Ideale hören, die sich am fin de siècle im Stadium der Décadence befinden. Nietzsches ambivalente Position als décadent und Überwinder der Décadence - denn so wollte er sich ja verstanden wissen - erklärte sich wahrscheinlich erst daraus. Überhaupt lassen sich Lebensverachtung und Zynismus am Ende des 19. Jahrhunderts wohl kaum ohne die Entwicklung des schon zu Beginn morbiden Imperialismus verstehen. Mit einer reinen Geistesgeschichte der Décadence ist das alles schwer zu schaffen. Anette Horn versucht es trotzdem. Und es misslingt ihr. Insbesondere aufgrund des prätentiösen Untertitels ihrer Dissertation - "Kritik und Analyse der Moderne" - ist das nicht leicht zu verzeihen.

Um Horns Dissertation dennoch auch positiv zu würdigen, wäre auf Nietzsche selbst zu verweisen. Eine Reihe seiner Gedanken finden sich exakt paraphrasiert und mit leuchtenden Zitaten illustriert. Nietzsche ist ein Körper-Denker, seine Philosophie durchdrungen vom Pulsieren des eigenen Leibes. Sein Denken ist leidenschaftliches Denken, voller Pathos und in existentiellem Leiden begründet. In Nietzsches Rede von der spielerischen Überschreitung der Grenzen des Menschseins wird mindestens als Subtext eine Konzeption gelungenen Selbstbezugs eingeführt, die bis heute weder Brisanz noch Subversion eingebüßt hat. An entscheidenden Stellen ist der sperrige Denker Nietzsche nicht weit von einem Denken der Emanzipation entfernt. In der zum Ende des Buches entfalteten Utopie eines "Lebens ohne Werte" kulminiert dieser nietzscheanische Radikalismus, den Horn treffend kennzeichnet und vor dem der Hut zu ziehen ist.

Doch genug des Lobes: Horns Buch ist kein Meisterwerk. Darüber täuschen die besten Gedanken Nietzsches nicht hinweg; nicht über die chaotische Gliederung und nicht über die unzähligen Wiederholungen, die aus ihr hervorgehen. Das Inhaltsverzeichnis erstreckt sich über sieben Seiten, die beinahe 190 (!) Überschriften vereinigen. Das mag Detailtreue suggerieren, zeigt hier allerdings eher den Mangel an einem klaren roten Faden an. Tatsächlich zerfällt die Gliederung in Scherben, die sich mitunter kaum noch unterscheiden lassen. Die Autorin scheint beim Verfassen das nämliche Problem gehabt zu haben. Unklare Vorgriffe und unnötige Rekapitulationen sind die Folge. Ein sehr unerfreuliches Tribut an Nietzsche bleibt auf diese Weise als Gesamteindruck stehen. Der Denker der "ewigen Wiederkunft des Gleichen" war ein pathetischer Denker. Mit reichlich Pathos kommt auch der Leser auf dem Weg durch das Dickicht ewiger Wiederholungen in Berührung. Bei den alten Griechen hieß Pathos Leiden. Leiden muss, wer sich zur Aufgabe gemacht hat, sämtliche 379 Seiten durchzuarbeiten und dabei bemüht ist, aus den gleichförmigen Scherben jener Dissertation ein virtuelles Mosaik zu basteln, das ein koordiniertes Bild darstellt.

Titelbild

Anette Horn: Nietzsches Begriff der décadence.
Peter Lang Verlag, Frankfurt 2000.
379 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3631352611

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