In zwei Welten

Haruki Murakamis Roman „1Q84“ macht es uns nur vorgeblich einfach

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Erfolg des japanischen Schriftstellers Haruki Murakami ist ebenso merkwürdig wie unerklärlich. „Gefährliche Geliebte“, Murakamis bekanntester Roman, profitierte ja vielleicht noch davon, dass sich Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler über die einschlägigen Stellen in diesem kleinen Roman öffentlich zerstritten und sich gegenseitig Prüderie respektive Altermännererotik vorwarfen.

Spätere Romane Murakamis, die jahrelang ins Deutsche nur über den Umweg aus dem Englischen übersetzt wurden, hingegen machten es den Lesern nicht mehr so einfach. Denn weder Erotik noch schwierige Liebesbeziehungen waren ihr Thema, sondern die gebrochene Realitätswahrnehmung von Figuren, die selber schon vor Merkwürdigkeiten strotzten.

Jedenfalls kann man es wohl nicht als gängig ansehen, wenn sich junge Leute in trockene Brunnen setzen, um ins Weltall zu blicken (Alexander von Humboldt erregte damit schon Aufsehen). Auch ein Stein, der wahlweise als Kopfkissen (sehr sehr hart) oder als Zugang zu einer anderen Welt funktioniert, ist nicht eben alltäglich.

Aber Romane müssen eben nicht alltäglich sein, sondern lesenswert. Und das ist auch Murakamis neuestes Werk, das gleich mit mehr als 1.000 Seiten auftrumpft und dabei auch nur die ersten beiden Bücher eines Dreiteilers darstellt (aus dem vielleicht noch vier Teile werden, das ist wohl schon klar, wie berichtet wurde).

1.000 Seiten aber müssen erst einmal bewältigt werden, und zwar von beiden, vom Autor wie vom Leser. Womit wir schon bei einer weiteren Merkwürdigkeit wären, die diesen Text auszeichnet: Sein Umfang ist ihm nicht anzumerken.

Murakami verfällt nirgend in jene unziemliche Hast, die bei großen Texten immer wieder dann auftritt, wenn ein Verfasser keine Geduld mehr mit seinem Werk hat. Und dabei bedient Murakami trotz seines unprätentiösen, teilweise sogar behäbigen und redundanten Stils seine Leser. Wiederholungen und Endlosschleifen stören nicht. Die Erzählung nimmt sich alle Zeit der Welt, und wir folgen ihr mit jener Geduld und Aufmerksamkeit, die große Werke verdienen.

Hilfreich ist dabei sicherlich, dass der Verlag seinen Erfolgsautor wie seiner Leser nicht mit einem gedrängten Schriftsatz quält, sondern dem Text Raum und damit dem Buch auch realiter Größe gönnt. Ein mattsilberner Umschlag, der Name grün auf Umschlag und Schnitt, der Titel glänzendsilber gedruckt: Das Buch ist auch gestalterisch, bei aller Zurückhaltung, eine Erscheinung.

Murakami erzählt in „1Q84“ die Geschichte zweier Dreißigjähriger, die nach zwanzig Jahren beschließen, einander zu finden. Das aber steht am Ende der ersten beiden, hier vorgelegten Teile, nicht am Anfang.

Am Anfang steht hingegen die Fahrt der Fitnesstrainerin und Auftragskillerin Aomane zu ihrem nächsten Opfer, das sie – im Stau steckend – allerdings nur erreicht, weil sie auf der Autobahn aus dem Taxi, das sie genommen hat, aussteigt, die Autobahn über eine Nottreppe verlässt, um mit der Bahn an ihr Ziel zu kommen. Dort wird sie genau das tun, was sie bereits von Anfang an vorhat: Sie wird einen Mann, der seine Frau bestialisch gequält hat, töten, ohne dass jemand etwas anderes als eine natürliche Todesursache feststellen wird.

Die Parallelgeschichte handelt vom Mathematiker und beginnenden Autor Tengo, der auf Drängen seines Mentors den Roman einer 17-Jährigen stilistisch überarbeitet, um ihn zum Bestseller zu machen.

Das Thema dieses Textes: das Parallelreich fantastischer Gestalten, die Little People genannt werden und die über einen Sprecher, eine Art Sektenführer mit 68er-Vergangenheit, Zugriff auf die Realität erhalten. Nebenbei: Sowas ist nicht nett.

Womit wir in jenem fantastischen Kosmos sind, der Murakamis Romane kennzeichnet, die wie Demonstrationen der literaturwissenschaftlichen Fantastiktheorie angelegt sind: Es ist ein Riss in seinen Welten, von dem der Übertritt in eine andere, eine Parallelwelt möglich wird, die in seinem Fall sich nur unmerklich von der gewohnten Normalität unterscheidet – hier angezeigt durch die beiden Monde, die die beiden Protagonisten unabhängig voneinander sehen können.

Sehen sie zwei Monde, dann wissen die beiden Murakami-Helden und wir Leser, wo wir sind: in einer Parallelwelt nämlich, von der wir zwar nicht genau wissen, was sie ausmacht. Denn sie ähnelt der Normwelt ansonsten weitestgehend, aber das eine oder andere geht dann doch anders vor sich als sonst (zum Teil eben auch surreal, wenn man das so ungeschützt behaupten darf).

Allerdings bedeutet das nicht, dass Murakami seinem Text die Zügel gibt, auch wenn sich im Laufe seiner Lektüre die fantastischen Elemente mehren. Eine „Puppe aus Luft“ (so der Roman, an dem Tengo arbeitet) hier, zwei Monde dort, eine verschwundene Nottreppe zum Schluss, skandalöse Sexualrituale mit Kindesmissbrauchscharakter mittendrin – alles das sind untaugliche Zutaten, die Murakami zu einer Geschichte zusammenstellt, die als Ganzes – merkwürdigerweise (hier ist vieles merkwürdig) – trotzdem funktioniert.

Dazu trägt die sehr präzise und klare Struktur des Textes bei, der in zwei Büchern zu je 24 Kapiteln gegliedert ist. Jedes Kapitel wird aus Sicht eines der beiden Protagonisten geschrieben. Sie begegnen sich im Laufe der Handlung kein einziges Mal (ein Mal dürfen sie auf Sichtentfernung einander nahe kommen), dennoch bewegt sich der Text mehr und mehr auf ihr Zusammentreffen zu (auch sie sollen sich haben dürfen?). Die Verbindungen zwischen ihnen, die geteilten Referenzen mehren sich, sodass ihrer Begegnung, die angeblich dann im dritten Buch stattfinden soll, nur noch vollziehen wird, was an Vernetzung bereits vorhanden ist. Am Ende dieser beiden Bücher wissen wir freilich nicht einmal so genau, ob Aomane überhaupt noch lebt. Was immerhin auch ganz gut funktionieren würde.

Bleibt der – wiederum – merkwürdige Titel: „1Q84“. Aomane bezeichnet damit im Text die Parallelwelt zum Jahr, in dem die Handlung spielt, 1984: Die Verweise auf George Orwells schwarze Utopie sind denn auch deutlich genug herausgestellt, wenngleich sie so beiläufig gehalten sind, dass sie nie als Leseanleitung gelten können. „Big Brother“ und „Little People“ als Parallelen? Mmmh.

Bedeutungsschwanger auch das typografische Spiel, denn „1Q84“ verdeckt kaum die Spielzeit des Textes 1984. Immerhin sieht das große Q der 9 ähnlich genug, damit das literarische Spiel im typografischen seine Fortsetzung findet.

Dennoch bleibt das Spiel mit den textuellen Referenzen (auch zum Schauerroman oder zur Kolportage, denn das Donnergrollen am Horizont oder nur die dräuenden Riten der Sekte, in deren Umkreis beide Protagonisten geraten, stammen wohl dorther). Murakami nimmt sich erst recht vieles vom Krimi und von der Literaturbetriebssatire. Aber der Roman geht darin nicht auf, wie er eben nirgends aufgeht.

Murakami macht sich offenbar nichts aus der Seriosität des großen Romans in der Nachfolge Thomas Manns, der über Jahrzehnte in der deutschen Kritik gefordert wurde, sondern orientiert sich lieber an Seinesgleichen, etwa an Thomas Pynchon. Soll heißen an den Autoren, die einfach nur machen, was ihnen Spaß am Text macht. Bedeutung spielt dabei eben keine übermäßig große Rolle – was angesichts der Deutungswut der Zunft (Kritik wie Literaturwissenschaft) wohl mit einem kaum verdeckten Gelächter begleitet wird. Freilich, wer lacht hier?

Titelbild

Haruki Murakami: 1Q84. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
DuMont Buchverlag, Köln 2010.
1021 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783832195878

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