„ich pistole / du angst“

Zu Yoko Tawadas neuem Gedichtband „Abenteuer der deutschen Grammatik“

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Gedichtband „Abenteuer der deutschen Grammatik“ von Yoko Tawada ist eine der vielen Neuerscheinungen auf dem Gebiet der interkulturellen Literatur, oft auch Migrantenliteratur genannt. Nach Alina Bronsky legten vor kurzem QueDu Luu, Abbas Khider und Julya Rabinowitsch jeweils ihr zweites Buch vor, während von Catalin Dorian Florescu und Lena Gorelik der vierte Roman erschien. Spätestens seit der Verleihung des Deutschen Buchpreises an Melinda Nadj Abonji für den Roman „Tauben fliegen auf“ sind Werke von Autorinnen mit nichtdeutschen Namen nicht länger exemplarische Erscheinungen in der deutschsprachigen Literatur, ganz im Gegenteil, und dies betrifft nicht nur die Prosa, sondern auch die Lyrik. Neben „Landschaft aus Menschen und Tagen“, dem siebten Gedichtband Gino Chiellinos, zwei Lyrikbänden Uljana Wolfs und Gedichten der mehrsprachigen Tzveta Sofronieva könnte man noch viele andere Werke und Autoren nennen, von denen manche unter den Preisträgern des Adelbert-von-Chamisso-Preises zu finden sind. Bereits 1996 ging diese Auszeichnung auch an Yoko Tawada, die auf Deutsch und Japanisch Prosa und Lyrik schreibt.

Der erste Gedichtzyklus „Abenteuer der deutschen Grammatik“ war namensgebend für das schmale Büchlein, das 35 Gedichte, verteilt auf fünf Zyklen, vereint. Die Texte sind jeweils eine kleine kritische Hommage an die deutsche Grammatik. Ihr Überraschungseffekt geht auf eine andere, von außen kommende Sichtweise zurück, der oft Vergleiche, Irritationen und Verfremdungen zu Grunde liegen, wie beispielweise im Gedicht „Die zweite Person Ich“:

Als ich dich noch siezte,
sagte ich ich und meinte damit
mich.
Seit gestern duze ich dich,
weiß aber noch nicht,
wie ich mich umbenennen soll.

Dieser Text thematisiert den Unterschied zwischen der deutschen und japanischen Sprache, in der es ein komplexeres Pronominalsystem gibt als im Deutschen. Neben die Pronomina treten Nomen, die ebenfalls als Pronomina fungieren können und eine Reihe von Nebenbedeutungen und Nuancen aufweisen. Zentral sind dabei verschiedene Stilebenen. Aufgrund des umfangreichen versprachlichten Höflichkeitssystems gibt es mehr als fünf verschiedene Formen für „ich“, die die soziale Distanz zwischen den Gesprächspartnern zum Ausdruck bringen. Das Phänomen, das Yoko Tawada in diesem Gedicht evoziert, ist nicht nur sprachlicher Natur, sondern auch ein Beispiel für die Unübersetzbarkeit der Kultur. Auch in zwei weiteren Gedichten – „Die zweite Person“ und „Die dritte Person“ – werden die Unterschiede der Pronomina als grammatikalische Kategorie im Deutschen und Japanischen illustriert.

Nicht nur Pronomina, Passiv, Perfekt, Verbkonjugation, Artikel, trennbare Verben und Satzstruktur sind Objekte komparatistischer Sprachstudien Tawadas, sondern auch phonetische Besonderheiten und die Interpunktion. Diese Gedichte könnte ein deutscher Muttersprachler so nicht schreiben, denn man benötigt ein anderes System, eine andere Ordnung, auf die das System und die Ordnung der deutschen Sprache aufprallen, damit all die Unterschiede, Seltsamkeiten, Zufälle und logischen Fehler offenbar werden. Tawada, die Russisch und Deutsch studierte, kennt drei Sprachsysteme und Denkstrukturen, so dass dieser Aufprall sich mal als eine sachte Berührung, mal als ein unerwartetes Aha-Erlebnis oder als aufrichtiges Staunen und Wundern über die grammatikalischen Mysterien gestaltet.

Der Gedichtzyklus gleicht in seiner Wirkung einer Röntgenaufnahme: Die für den deutschen Muttersprachler so gewöhnlichen und selbstverständlichen grammatikalischen Mechanismen entledigen sich ihrer Selbstverständlichkeit und avancieren zu bekannten Fremden, die man nicht immer wiedererkennt. In Formulierungen wie „ich pistole / du angst“, die auf die Konjugation zurück- und über dieses Grammatikthema hinausgeht, hält die Autorin fest, welchen Streich die deutsche Grammatik Sprachlernenden, die in ihrer Muttersprache keine Personenkonjugation kennen, spielen kann. Einige Regeln der deutschen Grammatik müssen für Sprachlernende in der Tat seltsam anmuten: „Das perfekt Vergangene ist durchkomponiert und vereinfacht / Warum sind wir aber so vielfältig in der Gegenwart?“

Viele Gedichte Yoko Tawadas lassen sich mit dem in der Sekundärliteratur zunehmend verwendeten Begriff des „deplatzierten Schreibens“ charakterisieren. Dies trifft auch Texte des Zyklus „Eine poetische Nachbarschaft“, die Reminiszenzen an Europa, beispielweise an Kopenhagen und Amsterdam darstellen. In Anlehnung an Emine Sevgi Özdamars Erzählungsband „Mutterzunge“, kann man „Zunge“ auch bei Yoko Tawada als Sprache oder Muttersprache auffassen. Tawadas Versuch, die Bilder durch die Folie der Muttersprache wahrzunehmen – hier sei auf das von Carmine Chiellino entwickelte Konzept der Sprachlatenz verwiesen –, ermöglicht ihr überraschende, oft surrealistisch anmutende Kreationen: „Sie speisen rot gefärbte Finger im heißen Hund und reden / über frische Filme“. Dies ist nicht nur eine Minihommage an dänische Røde Pølse im Hot Dog, sondern ein Beispiel der (Un-)Übersetzbarkeit im interkulturellen Kontext.

Auch die Verwandlung, das zentrale Thema in Tawadas Texten, fehlt nicht in diesem Gedichtband: „Im Herbstregen ist jede Fläche ein Spiegel / In jedem Ich eine Kastanie / In jeder Kastanie ein Gedicht“. Einige dieser Texte erinnern den Leser an Tawadas Erzählband „Opium für Ovid“, der auf Ovids Metamorphosen und die Tradition japanischer „Kopfkissenbücher“ rekurriert. Gleichzeitig denkt man an Tawadas Tübinger Poetik-Vorlesungen, die unter dem Titel „Verwandlungen“ erschienen. Eine Besonderheit vieler Gedichte stellt die unerwartete Musikalität dar: „blumenketten der tapete“, „hinausschauen und staunen“, die oft durch Alliterationen entsteht: „Und die braun gebrannten Beine der Knaben“.

Zwei Dichter, der Österreicher Ernst Jandl und die dänische Lyrikerin Inger Christensen, der Tawada den Zyklus „Loblieder für die Toten“ gewidmet hat, verkörpern die literarische Tradition, an die dieser Band anknüpfen möchte. Zwar zeigt Tawada Affinität für die Zahlen – „Zwei Völker drei Bäume ein Vogel“, „Zwei Regierungen drei Religionen ein Ende“, „Flüchtige Zahlen / Dreizehn und Elf“ – , aber dies dominiert ihre Texte nicht. Es sind viel mehr etymologische Minisprachstudien wie beispielweise im Zyklus „Utopien“, die ihren besonderen Umgang mit der Sprache prägen. Die dichterische Sprache Tawadas, bezaubernd und unverwechselbar, verhilft ihr und uns zu frischen, unverbrauchten Bildern, die in ihren Bann ziehen. Sie weiß: „dichten bedeutet: die früchte buchstabieren“

Titelbild

Yoko Tawada: Abenteuer der deutschen Grammatik.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2010.
62 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783887697570

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