Herzliche Grüße von Deinem Bub

Über Hanns-Josef Ortheils autobiografischen Roman „Die Moselreise“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem vorletzten großen Roman „Die Erfindung des Lebens“ erzählt der 1951 in Köln geborene Schriftsteller und Hildesheimer Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus autobiografisch von den Prägungen seiner Kinderjahre, die das Verstummen der Mutter angesichts des Verlusts von vier Söhnen und das eigene Verstummen bis zum Schuleintritt prägen.

Mit der „Moselreise“ knüpft Ortheil an diese Jahre an. Erzählt wird die knapp zweiwöchige Reise des elfjährigen Hanns-Josef mit seinem Vater im Sommer 1963. Das Besondere: „Die Moselreise“ ist der Text des Knaben, der aus Angst, die mühsam wieder errungene Sprache zu verlieren, unermüdlich aufschreibt und notiert. „So schafft sich das Kind seine ganz besonderen, selbst geschriebenen ‚Lese‘- und ‚Lebensbücher‘, und so entwirft es das ‚Archiv seines Lebens‘, wie Ortheil in seinem Vorspann erläutert.

Das Reisetagebuch, das mit der Unterhaltung mit dem Vater im Zug beginnt und das neben Lektüreerlebnissen, Landschaftsimpressionen und kurzen Reflexionen auch akribisch alle Postkartentexte an die Mutter versammelt, arbeitet der Junge am Ende zu eben jenem „Roman eines Kindes“ aus, wie der Untertitel der „Moselreise“ lautet.

Entstanden ist dabei eine Reiseerzählung, die Momentaufnahmen einer innigen Vater-Sohn-Beziehung mit erstaunlichen kindlichen Alltagsbeobachtungen zu „Moment-Skizzen, um das flackernde Denken und Fühlen“ webt. Der Elfjährige reflektiert über das ganz andere touristische Reisen. Er notiert Sehenswürdigkeiten, unterhält sich mit dem Vater über Moselweine, denkt über das Zweite Vatikanische Konzil und den Priesterberuf nach oder skizziert mit wenigen Worten die Veränderungen der Mosellandschaft: „Die Mosel ist grünblau und grünbraun, an den Rändern aber eher grün. In der Mitte ist die Mosel wie ein dunkler, stiller Teich, fett und dunkelgrün und unheimlich. Die Ufer spiegeln sich in der Mosel, dort zerfließen die Farben wie Wasserfarben auf meinen Schulbildern.“

Der Knabe sinniert auch über das Phänomen von „bleibenden Erinnerungen“, über das er sich mit seinem Vater auf der Reise unterhält: „Ich habe mir vorgenommen, die bleibenden Erinnerungen, die ich habe, einmal zu sammeln und aufzuschreiben. Der Kölner Dom ist eine bleibende Erinnerung. Unsere Kölner Wohnung ist eine bleibende Erinnerung. Opas Kautabak ist eine bleibende Erinnerung. Der Kartoffelpuffer von Tante G. ist eine bleibende Erinnerung. Ich glaube, ich habe schon sehr viele bleibende Erinnerungen, mehr jedenfalls, als ich anfangs dachte. Als Papa von diesen Erinnerungen sprach.“

Und um die Bedeutung des Zweiten Vatikanums wissend, überrascht der Knabe mit dem unorthodoxen praktischen Vorschlag: „Wenn ich Papst wäre, würde ich anordnen, dass jeder Kardinal oder Bischof, der an dem Konzil teilnimmt, an jedem Sonntag in Rom mit den Römern zu Mittag essen soll, und das immer an einem anderen Ort mit immer anderen Menschen. Durch das Mittagessen an immer einem anderen Ort mit immer anderen Menschen könnte der Kardinal oder Bischof erfahren, was die Menschen über das Konzil denken und was sie als Nächstes von ihm erwarten und ob sie gute Vorschläge haben, worüber man während des Konzils alles reden sollte.“

Garniert sind die Aufzeichnungen des jungen Ortheil über seine Lehr- und Wanderwochen für ein „Zuhause-Sein in der Fremde“ mit Schwarz-Weiß-Postkarten und Fotos, umrahmt von einleitenden und abschließenden Deutungen des erwachsenen Erzählers.

Hanns-Josef Ortheils „Die Moselreise“ ist ein gelungener Text zuerst und vor allem über eine innige, empathische Vater-Sohn-Beziehung. Diese „Stimmen-, Text- und Bilder-Collage des Landschaftsraums Mosel“ ist zugleich ein Text über das Schreiben, das tatsächlich „retten und am Leben erhalten kann“, ein Text, der in seiner Schlichtheit anrührt, berührt. Zumal er eine Hommage über den Tod hinaus an den eigenen Vater ist. Denn der Erzähler hat nach dem Tod des Vaters exakt jene Reise vom Sommer 1963 wiederholt, um sich wie in der Kindheit von den „hilflosen Verhaltensformen“ erneut zu befreien. So führt der Text am Ende erneut auf einfache wie eindringliche Weise die Magie von Schrift vor Augen.

Titelbild

Hanns-Josef Ortheil: Die Moselreise. Roman eines Kindes.
Luchterhand Literaturverlag, München 2010.
220 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873435

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