Über die künstlerische Demaskierung der Konstruktion von Behinderung

Das “Edinburgh German Yearbook” Volume 4 behandelt Disability in German Literature, Film, and Theater

Von Jonas ReinartzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Reinartz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Man machte mich mit den Poesien eines einheimischen Naturdichters, Namens Fürnstein, bekannt, welche lobenswürdig sind; auf seinem seit dem siebenten Jahr durch Gicht verkrümmten Körper hat sich ein guter Kopf ausgebildet, ein Cerebralsystem, das wohlgestalten Gliedern Ehre machen würde. So wunderbar stecken vorzügliche Menschen in allen Winkeln der Erde. Niedergedrückt vom entsetzlichsten Elend, behauptet der Menschengeist doch immer wieder einmal seine Rechte.“

Diese Zeilen über den heutzutage unbeachteten Naturdichter Anton Fürnstein (1783-1841) schrieb Johann Wolfgang von Goethe am 26. August 1822 an seinen Freund Kaspar Maria von Sternberg (1761-1838). In der Schrift „Deutscher Natur-Dichter“ – erschienen im dritten Heft von „Über Kunst und Altertum“ (1823) – erwähnt er zudem, dass er den sich „in dem krüppelhaftesten Zustand“ befindlichen Dichterkollegen bei seiner ersten persönlichen Begegnung 18 Tage zuvor „kaum anzusehen wagte“. Auf eine sich daran anschließende Beurteilung der menschlichen und künstlerischen Qualitäten Fürnsteins hat dies keinerlei Auswirkungen. Man könnte auch konstatieren, dass sich Goethes Einschätzung von einer gewissen Abscheu hin zu Mitleid und Bewunderung, die der Fähigkeit galt, trotz einer massiv beeinträchtigten Physis erstaunliche geistige Leistungen zu vollbringen, ja bis zur Überhöhung wandelte – eine Reaktion, die, gegenwärtige political correctness einmal beiseite gelassen, nachvollziehbar sein dürfte.

Die sogenannten „Disability Studies“ würden dies allerdings anders beurteilen. Hervorgegangen aus den Emanzipationsbewegungen behinderter Menschen in den USA und Großbritannien zu Beginn der 1970er-Jahre, strahlten sie bald in den akademischen Sektor aus. In Deutschland sind sie erst seit der Ausstellung „Der (im-)perfekte Mensch: Zwischen Anthropologie, Ästhetik und Therapeutik“ aus dem Jahre 2001 halbwegs präsent. Symptomatisch für die marginale Stellung im deutschsprachigen Bereich ist zudem die Tatsache, dass hier lediglich ein einziger entsprechender Lehrstuhl existiert, nämlich jener an der Universität zu Köln namens „Soziologie und Politik der Rehabilitation, Disability Studies“. Im Zentrum steht, durchaus vergleichbar mit den Gender Studies oder seinen Abkömmlingen, man denke etwa an die Queer Studies, die Beobachtung der Konstruktion eines Merkmales, das jeweils eine Gruppe als deviant kategorisiert und sozialen Exklusionsmechanismen unterwirft – hier eben jene Menschen, die in körperlichen Belangen nicht der Norm entsprechen.

Eindeutig von den bahnbrechenden Arbeiten Michel Foucaults inspiriert, bemüht sich das sinnvolle interdisziplinäre Projekt, die oftmals unterschwellig operierenden Funktionsweisen dieser Ausgrenzung zu visibilisieren und eben auch neue Perspektiven für die Interpretation künstlerischer Verhandlungen von Behinderung zu erproben. Diese bezieht ihre Attraktivität daher, dass „[l]iterature and the media“, so Eleoma Joshua und Michael Schillmeier, die Herausgeber des Sammelbandes „Disability in German Literature, Film, and Theater“ in ihrer Einleitung, „have the political power to create and challenge dominant cultural narratives and make transparent what is deemed the norm and deviant.“

Dabei reicht das Spektrum, gemäß der breiten Ausrichtung des Forschungsfeldes, von einem Roman der Spätaufklärung wie Johann Karl Wezels Roman „Tobias Knaut“ bis zum jüngeren TV-Film „Contergan“. Eine gewisse Beliebigkeit lässt sich freilich nicht leugnen, jedoch sollte berücksichtigt werden, dass der Band auch als eine Art Einführung beziehungsweise Rechtfertigung verstanden werden will, denn „[t]he recent removal of the section on physical disability from the 2010 edition of the Norton Anthology of Theory and Criticism illustrates its current marginalization as a discourse in the academic study of literature and culture.“ So gesehen ist diese Fülle also durchaus positiv zu bewerten. Ob das anvisierte Ziel angesichts der Qualität dieser Publikation erreicht werden kann, wird im Folgenden noch zu zeigen sein.

Einen qualitativen Standard, den die übrigen Arbeiten bei weitem nicht halten können, setzt Urte Heldusers Beitrag „Literarische Anthropologie und Groteske. Johann Karl Wezels Tobias Knaut und die Anfänge einer literarischen Darstellung von ‚Behinderung’ um 1800“. Äußerst präzise und mit spürbarer Freude am Auffinden zeitgenössischer Quellen vermag sie aufzuzeigen, wie Wezels zwischen 1773 und 1776 erschienener Text damalige Diskurse um Monstrosität, insbesondere jene der Naturwissenschaft, die über die beiden Pole Epigenese und Präformationslehre geführt wurden, aufgreift und zu einer Vermittlung führt. Schlüssig kann sie argumentieren, dass daher Behinderung als Entwicklungsprozess und „nicht als ‚natürlich gegeben’“ dargestellt wird. Daneben finden sich noch exzellente Vignetten, etwa über die Vererbungsthematik in Laurence Sternes „Tristram Shandy“ (1759-1767). Generell lässt sich sagen, dass der Blick in die Wissenschaftsgeschichte nach wie vor interessante Perspektivierungen liefern kann (man denke etwa an Christine Kanz’ luziden Aufsatz „Generation – generatio – Verwandschaft. Kleists ‚Der Findling‘ in Kontexten der zeitgenössischen Literatur und Wissenschaften“ im Kleist-Jahrbuch 2010). So nötig eine Kontexualisierung auch ist, bei Karin Harrasser („Raoul Hausman und die Prothetik der Zwischenkriegszeit“) nimmt diese einen zu großen Umfang ein. Ihrer für sich genommen informativen Darlegung der theoretischen und künstlerischen Ausführungen Raoul Hausmanns steht eine fast doppelt so lange Einführung in die Diskussionen über Prothesen und Kriegsversehrte im Umfeld des Ersten Weltkrieges voran, so dass sich eine gewisse Ermüdung einstellt. Diverse Grammatikfehler stören ebenfalls.

Eleoma Joshua widmet sich in „Misreading the Body: E.T.A. Hoffmann’s Klein Zaches, genannt Zinnober“ jenem 1819 veröffentlichten Kunstmärchen, das sein Autor als „das humoristischste, was ich je geschrieben“ bezeichnete. Plausibel geraten sowohl die Übertragung von Foucaults These über das ab 1600 einsetzende Auseinandertreten von Zeichen und Dingen auf Hoffmanns Kontrastierung von Aufklärung und Romantik, inklusive der damit verbundenen Befähigung des romantischen Künstlers, die Welt richtig zu erkennen, als auch die Überlegungen zur (Fehl-)Interpretation von Textilien und die Rolle des Grotesken für den „Zaches“. Dies alles ist jedoch innerhalb der Hoffmann- beziehungsweise Romantikforschung überhaupt kein Neuland. Man mag es zunächst kaum glauben – Joshua bezieht sich tatsächlich auf keinen einzigen Sekundärtext, was gerade angesichts eines Autors, dessen Œuvre in den letzten Jahrzehnten so intensiv erforscht wurde, dass die resultierende Textflut „selbst für Experten kaum noch zu überschauen ist“ (Barbara Neymeyr), schon verwundert.

So könnte man etwa glauben, die Bezüge zu Mikhail Bakhtin und Foucault wären Joshuas Idee, was aber eben nicht der Fall ist. Das Fehlen entsprechender Fußnoten an diesen Stellen könnte Neulinge hier durchaus in die Irre führen. Ferner entfallen auch wichtige Bezüge zu anderen Werken der Weltliteratur, den behinderten Protagonisten betreffend, der für Hoffmann typischen Vorliebe für „Hybridisierungen von Tier und Mensch“ (Detlef Kremer) oder jener bereits thematisierten Kritik an der rationalistischen Wissenschaft, von der bereits bestehenden Lesart Zaches’ als sozial Geächtetem von Furio Jesi (1973/dt. Ü.: 1985), an die anzuknüpfen wäre, ganz zu schweigen. Auf die mit dem Grotesken eng verknüpfte, gehässige Komik wird leider kaum eingegangen, ist Zaches doch für seinen Schöpfer gerade ein „hässlicher, dummer, kleiner Kerl“, ein Spottobjekt also, welches Hoffmann, der – ohne freilich in biografische Spekulationen verfallen zu wollen – unter seinem Körper litt und womöglich „[a]us Angst davor, lächerlich zu werden, […] schließlich zum großen Humoristen wurde“ (Rüdiger Safranski), just einfiel, als ihm eine Unterleibsverhärtung die eigene Kreatürlichkeit schmerzhaft in Erinnerung rief. Humor ist eben ein probates Mittel, Distanz zum eigenen Leiden zu gewinnen.

„Funken im Abgrund“, Soma Morgensterns (1890-1976) lange verkannte Romantrilogie, wird von Corinna Häger hinsichtlich „Disfigurement, Disablement and Discrimination“ sehr behutsam interpretiert. Sie zeigt das dort verhandelte jüdische Milieu in Galizien zur Zwischenkriegszeit als komplexes Geflecht von Antisemitismus, Assimilation und innerjüdischen Konflikten, wobei ihr eine solide Kenntnis (kultur-)geschichtlicher Forschungsarbeiten, etwa über Affekte, Erinnerung und jüdische Traditionen, zugute kommt. Ebenfalls einem eher unbekannten Werk widmet sich Pauline Eyres „From Impairment to Empowerment: A Re-Assessment of Libuše Moníková’s Representation of Disability in Pavane für eine verstorbene Infantin“. Die 1945 in Prag geborene und 52-jährig in Berlin verstorbene Moníková arbeitete zunächst als Hochschuldozentin und Lehrerin, erst spät begann sie zu schreiben und schuf sieben Romane (ihr letzter, „Der Taumel“, blieb Fragment) sowie zwei Theaterstücke. Eyre liest die Ich-Erzählerin der „Pavane“ (1983), Francine Pallas, entgegen der übrigen Forschung zu Moníkovás zweitem Roman, die das Experiment, sich als Behinderte im Rollstuhl auszugeben, nur als Metapher, wahlweise für die Schwierigkeit von Frauen, eine Stimme für ihre Belange zu finden oder – weniger verallgemeinernd gedacht – inneren Schmerz, auffasst. Anhand einer textnahen Interpretation kann Eyre ihre Lesart durchaus plausibel begründen, die Ausführungen zu Parallelen mit Velázquez’ Gemälde „Las Meninas“ (1656) geraten hingegen reichlich spekulativ, was dem Gesamteindruck jedoch nicht allzu sehr schadet.

Literaturtheoretisch ambitioniert seziert Rosa Schneider einen Klassiker der Nachkriegsliteratur, indem sie Grass’ „Die Blechtrommel“ (1959) hinsichtlich „Behinderung und d[er] Macht des Blickes“ liest. Gestützt auf Foucaults Konzept des Panoptismus und ähnlichen Überlegungen Donna Haraways zeigt sie überzeugend, wie der „entkörperte und allmächtige Blick“ zu einem zentralen Motiv avanciert. Ob der Vergleich von in Fachzeitschriften beurteilten Patienten mit den isolierten Insassen von Jeremy Benthams Panoptikon nicht zu sehr in Richtung einer Überinterpretation geht, sei einmal dahingestellt. Die anschließende Verwendung von Homi K. Bhabas und Kaja Silvermans Mimikry-Theorien allerdings ist sinnvoll und führt zu interessanten Ergebnissen.

Die Beiträge von Anna Kornbrodt („‚Der hinkende Vogel verfremdet den Flug‘ – Heiner Müllers ‚Philoktet‘ im Kontext der Disability Studies“), Susanne C. Knittel („Bridging the Silence: Towards a Literary Memory of Nazi Euthanasia“) und Martin Brady („Thalidomide as Spectacle and Capital“) zeigen indes eine deutlich schwerwiegendere Schwäche, nämlich einen spürbaren Hang zum Moralisieren. So plausibel ihre Illustration von „Disability Studies“-Thesen durch Textbeispiele aus dem Stück auch sind – das Beispiel des aufgrund seines eiternden Fußes auf einer Insel ausgesetzten Kriegshelden lässt sich aufgrund der räumlichen und sozialen Isolation treffend ins Allgemeine wenden –, wenn Kornbrodt plötzlich die gegenwärtige Situation von Behinderten beklagt, wirkt dies mitunter sehr plump. Derlei Klagen über gesellschaftliche Missstände sind absolut berechtigt, doch sie vertragen sich nicht mit einer wissenschaftlichen Analyse.

Knittel brandmarkt die von ihr interpretierten Erzählungen – Heinrich Bölls „Daniel, der Gerechte“ (1955) und Wolfdietrich Schnurres „Freundschaft mit Adam“ (1958) – gar als „exploitative“ und fahrlässig. Dies gipfelt in einer konkreten Forderung: „[R]epresentations of Nazi euthanasia have to accomplish three things at once in order to encourage an appropriate and constructive engagement with this particular memory: they have to portray the victims as human beings and not as stereotypes, attribute them equal status as victims of Nazi persecution, while at the same time paying attention to their specific situation“. Ist es aber – bei aller Zustimmung für die verständliche Kritik – wirklich die Aufgabe der Literaturwissenschaft, einen Forderungskatalog für Autoren und ihre Hervorbringungen aufzustellen? Die Bezugnahmen Martin Bradys auf Tobin Siebers, einen der bekanntesten Vordenker der „Disability Studies“, der provokativ behauptet, Behinderung ermögliche vielleicht „epistemological insights“ und sei „aesthetic value in itself“, sind gleichfalls problematisch.

Regelrecht ärgerlich – wenn auch in anderer Hinsicht – fällt Siegfried Saerbergs Aufsatz „Schöne blinde Geigerinnen und mürrische blinde Bauern“ aus, welcher das Motiv der Erblindung verhandelnde Trivialromane analysiert. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, doch es stellt sich die Frage, ob man tatsächlich 40 Primärquellen auswerten muss, um etwa zur folgenden Bewertung zu gelangen: „Die wahre weibliche Liebe in diesen Romanen ist blind. In diesem Sinne sieht nur Frau [sic!] mit dem Herzen gut. Männer sind dagegen immer verblendet und bedürfen weiblicher Hilfe, um die Wahrheit zu sehen.“

Nicht unerwähnt bleiben sollte die Leistung der Herausgeber, denn sie ist leider unzulänglich. So finden sich Formulierungsfehler wie „ein noch unbegriffenen Menschenbild“, „[e]in normalistisch-kybernetische Modell“ oder „einer grundsätzlich mangelhafter, aber zur Selbstverbesserung fähiger Körperlichkeit“. Der Tiefpunkt: „Die Figuration der Prothese erzeugte darüber hinaus eigendynamisch eine gefährliche Drift innerhalb einer korporalistischen Metaphorik von Gemeinschaft zu tun.“

Nicht wesentlich besser sieht es bei den Titeln einzelner Werke aus. So schreibt Pauline Eyre in einem kurzen Kafka-Exkurs zunächst „Das Schloß“, dann aber „Der Prozess“. Gerade letzterer Fall ist relativ verwickelt, da Kafka selbst „Process“ benutzte, es aber in der „Kritischen Kafka-Ausgabe“ (KKA) „Der Proceß“ heißt. Da letztere längst den gängigen Taschenbuchausgaben zugrunde liegt, ist die wohl auffälligste Schreibweise mittlerweile Standard. Beim Korrekturlesen müssten solche Fehler auffallen, wie auch derjenige des Londoners Martin Brady, der Fassbinders „Der Müll, Die Stadt und Der Tod“ erwähnt, eine Titelnennung, bei der ja – im Gegensatz zur Schreibweise im Englischen – die Artikel selbstverständlich kleingeschrieben werden müssten.

Zeitdruck mag der Grund dafür sein, dass diese Mängel nicht erkannt wurden, eine derartige mangelnde Sorgfalt hat in einer wissenschaftlichen Publikation dennoch nichts zu suchen, zumal der Lesefluss deutlich darunter leidet. Bezeichnend ist bereits der Titel, der ja verlauten lässt, es ginge um „Disability in German Literature, Film, and Theater“.

Es ist aber merkwürdig, dass sich von insgesamt zehn Aufsätzen lediglich jeweils ein einziger gänzlich dem Theater oder Kino widmet. Darüber ließe sich noch hinwegsehen, wie hingegen das dadaistische Multitalent Raoul Hausmann in dieses Konzept integrierbar sein soll, ist nicht ersichtlich. Vielleicht wäre ein Sammelbegriff, beispielsweise „the German arts“, sinnvoller gewesen. Einige biobibliografische Angaben, wie es sonst üblich ist, hätten im Übrigen geholfen, die einzelnen Beiträge besser einordnen zu können. Insgesamt muss man konstatieren, dass mit diesem Sammelband den ‚Disability Studies‘ kein großer Gefallen getan wurde, was nicht einmal am erwähnten moralischen Zeigefinger liegt. Dass es auch anders geht, zeigen ja gerade Urte Helduser und Corinna Häger. Augenfällige editorische Nachlässigkeiten werden allerdings kaum zur Etablierung eines Forschungsbereiches, der, so Joshua und Schillmeier, „not yet a mainstream form of literary and critical analysis“ ist, beitragen.

Titelbild

Michael Schillmeier / Eleoma Joshua (Hg.): Disability in German Literature, Film and Theater.
Edinburgh German Yearbook Vol.4.
Camden House, Rochester, New York 2010.
224 Seiten, 58,99 EUR.
ISBN-13: 9781571134288

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