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Anna Kim sucht das Grönländische und findet in ihrem Essay „Invasionen des Privaten“ zu sich selbst

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Grönland ist für die gebürtige Südkoreanerin Anna Kim „der exotische Ort schlechthin“, bestens geeignet, „sich in das vollkommen Fremde zu begeben und mit ihm zu konfrontieren“. Als österreichische Autorin reist sie im Rahmen des Projekts „mitSprache unterwegs: Literarische Reportage nach Joseph Roth“ im Februar 2010 für einen Monat über Kopenhagen auf die größte Insel der Welt. Bestens vorbereitet, gespannt auf das Fremde, das Grönländische, auf die Spuren der dänischen Kolonialisierung macht sie sich auf und schreibt den nunmehr im Droschl Verlag vorliegenden bemerkenswerten Essay „Invasionen des Privaten“.

Als Passante, das weibliche Gegenstück zum Flaneur, streift sie durch die Hauptstadt Nuuk, beobachtet, genießt, schweigt aber nicht. Sie schildert die 15.000-Einwohner-Stadt folglich als Großstadt, gesteht den paar Hochhäusern zu, „Wolkenkratzer an wolkentiefen Tagen“ zu sein, wundert sich über Holzhäuser auf der Insel ohne Bäume, entdeckt, wie dänisch, europäisch alles wirkt und sucht vergeblich nach grönländischen Spuren. Denn die Spurenlosigkeit scheint ein Teil des Wesens der Inuit-Kultur zu sein. Im Gegensatz zur europäischen Kultur der Konservierung, für die „Überdauerbarkeit ein wesentliches Qualitätsmerkmal ist“, ist die Inuit-Kultur „eine Kultur des Augenblicks, in der das Unmittelbare die Handlung bestimmt“.

„Interessant an Nuuk ist nicht das, was da ist, sondern das, was fehlt“, beschreibt sie die Unmöglichkeit, Grönländisches zu finden. Die Kolonialherren haben den Einheimischen aus materiellen Gründen ihre Werte, Kultur, Lebens- und Denkweise aufgezwungen, um deren „Wildheit auf einen annehmbaren Grad zu reduzieren“. Die Maßnahmen zum Schutz der Grönländer, die im 18. Jahrhundert verboten, Alkohol, Kaffee, Tee und Gewürze an Grönländer zu verkaufen, und durch rein grönländische Ehen darauf abzielten, die „Beuteproduzenten“ nicht zu europäisieren, damit sie produktiv blieben, konnten die grundlegende Veränderung der Gesellschaft nicht verhindern. Die unzähligen Exporte des dänischen Mutterlandes, die „Territorialmarkierungen“, machten ab den 1950er-Jahren die allgegenwärtige Imitation eines (dänischen) Ideals zum Credo. Längst haben auch die Kolonialisierten zum Verschwinden ihrer eigenen Kultur beigetragen. Anstatt wild, unzivilisiert und primitiv zu sein, wie es ihnen die Kolonisatoren einredeten, wollen sie gleichberechtigt, „wirklich dänisch“ und damit erfolgreich sein. „Der ‚neue Grönländer‘ zeichne sich vor allem durch das Fehlen seines ‚Eskimo-Aussehens‘ aus“.

Anna Kim gibt nicht auf, findet Grönländisches beim „Kaffeemik“, in den „angeeigneten Familienmitgliedern“ oder dem freitagabendlichen Diskobesuch der gesamten Großfamilie. Nicht ohne sich gleichzeitig für das „ Auseinanderdividieren der Kulturen“ ein wenig zu genieren. Sie, die „Vollzeitreisende“, wie sie ihr Existenzkonzept beschreibt, kommt nicht umhin, persönliche Vergleiche anzustellen: „Das gute Dänisch eines Grönländers (die guten Deutschkenntnisse einer Koreanerin, ergänze ich für mich)“, beide sind „Möglichkeit[en], das Stigma der Herkunft zu überwinden, ein Mittel zur gesellschaftlichen Auferstehung“.

Die jahrzehntelangen Versuche, Grönland und seine Gesellschaft zu dänifizieren, stellen heute viele Menschen vor Identitätsprobleme und der Leser findet sich erneut in der Biografie der Autorin wieder, wenn sie fragt: „Warum ist es so schwierig zu akzeptieren, dass Abstammung und Identität nicht immer übereinstimmen müssen“? Karen, eine nach Dänemark adoptierte Grönländerin ist eben genauso eine „Ausgegrenzte, Gestrandete“, die „zwischen den Welten im Niemandsland“ lebt wie eine als Baby nach Österreich gekommene Koreanerin.

Gefesselt von den in historische und wissenschaftliche Fakten eingebetteten Beobachtungen und Gesprächen, die höchstes literarisches Niveau erreichen, genießt der Leser diese packende Reisereportage, erweitert sein Wissen und wird Lösungen für einen angemessenen Umgang mit Zuwanderung oder den neuen Formen der Kolonialisierung suchen. Grönland erscheint durch diesen Essay sehr nah, vertraut und als Ausgangspunkt, um aktuelle Konflikte andernorts in einem neuen, verständlicheren Licht zu sehen.

„Wenn man in Grönland krank ist, sagt sie, ist man krank, es ist typisch dänisch, die Krankheit heilen zu wollen“. Anna Kim ist zum Glück so dänisch, die Fehler bei der Integration nicht nur aufzuzeigen, sondern auch zur Problemlösung oder Heilung beizutragen.

Titelbild

Anna Kim: Invasionen des Privaten. Essay 63.
Literaturverlag Droschl, Graz 2011.
112 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783854207818

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