Polyphone Assemblage

In ihrem Lyrikband „Florida Räume“ lässt Ann Cotten die Puppen der Postmoderne tanzen

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viel gelobt wurden die in „Florida Räume“ versammelten Gedichte der in Iowa geborenen Lyrikerin Ann Cotten bereits: „hinreißend“ seien sie, enthusiasmierte sich Jochen Jung unlängst in der „Zeit“ und proklamierte derart euphorisiert, sie gehörten „ab sofort zum Besten, was die deutschsprachige Lyrik dieser Tage kann“. Ein nicht gerade geringes Lob, das nicht nur Großes, sondern wahrlich Superlativisches erwarten lässt von dem nicht ganz 300 Seiten starken Band, den, der fiktiven Logik desselben folgend, Ann Cotten gar nicht selbst geschrieben, sondern lediglich als (ebenfalls fiktive) Herausgeberin aus den Einsendungen eines angeblichen Schreibwettbewerbs zusammengestellt hat. „Mit Schreiben Geld verdienen? Ihre intimsten Gedanken mit riskanten sprachlichen Mitteln preisgeben, Ruhm und Ehre dafür erhalten? Das klingt unwahrscheinlicher als der Mensch, der sich in den Lüften als Pilot verdingen soll. Das Unwahrscheinliche ist unser Metier. Ihres, unbekannterweise: Verzweiflung, Überlegung und Fleiß. Zusammen geben wir den Menschen mehr als die Boeing: die Selbsterkenntnis.“

Doch, so stellt die hintersinnige Herausgeberin in der Folge fest, das eigentliche telos der mit Hilfe von „gewissen Vertretern des Ethikrats“ ausgewählten und publizierten Texte sei freilich gar nicht so sehr die hehre „Selbsterkenntnis“, als vielmehr der Wunsch der jeweiligen Verfasser und Verfasserinnen, etwas „Nützliches“ zu produzieren: „Die im Dossier vertretenen Subjekte haben meine Strategie auf ihre Weise genau verstanden. Ihr Interesse ist komplementär zu dem unseren – so unfertig begriffen alle beide noch sein mögen. Sie spüren das Bedürfnis nach einer Instanz, die ihre Anlagen, Berichte, Auskünfte und Selbstbefragungen zu einem Nutzen einzufügen wüsste. Das Publikum, an das sie gewohnt sind sich zu wenden, ist dafür ein kaum tauglicher Ersatz. Seine Masse ist der jeweilige Rest des Vorhandenen. Vom Publikum bekommen sie Beifall oder Wärme – knapp und oft auf einem Missverständnis beruhend.“

Dass sie angeblich nur sieben Prozent aller Einsendungen hat verwerten können, unterstützt wiederum Cottens These von der Notwendigkeit einer „Schwerkraft“ für die Literatur, durch die von jenen „Lastwagen voller Romane“, die Menschen in ihren einsamen Kämmerchen produzieren, die dilettantische Spreu vom literarischen Weizen getrennt werden könne; oder, wie Cotten es à la Friedrich Nietzsche formuliert: „Wichtiger als irgendeine Schule ist, dass alles, was nicht stehen kann, auch wirklich einfällt.“ Doch, so die Herausgeberin, man werde immer wieder überrascht: „Viele Menschen spucken, ohne es zu ahnen, sehr interessante Artefakte aus.“

Rund zehn Seiten widmet Cotten derartigen Prolegomena, in denen sie sich über Sinn und Zweck von Literatur ergeht, nicht immer ganz luzide und wahrscheinlich auch nicht immer ganz ernsthaft; so wird jedoch bei der Lektüre der vorangestellten ‚Theorie‘ zumindest schon deutlich, dass das, was an eigentlichen Gedichten noch folgen wird, wohl keinesfalls leichte poetische Kost sein dürfte.

Den Auftakt macht dabei eine Abteilung mit Texten einer sogenannten „Agentin“, die „offensichtlich beruflich viel unterwegs“ ist: „Müde schreibt sie, wie sie ihre Strumpfhosen abstreift, ohne etwas damit zu verfolgen als eine halbwegs kohärente Ablage ihrer Gedanken und Gefühle. Ihre Seele wohnt im Beruf.“ Ihre Gedichte werden als „resignativ, pessimistisch, zynisch, gelegentlich romantisch, allenfalls sehnsüchtig“ angekündigt – eine Einschätzung, die wohl durch das unmittelbar folgende „Ghasel“ unterstütz werden soll: „Als zwei Dichterinnen ungeschickt den Friedhof hinunterfielen, / wurde das Ghasel erfunden. / Wir sitzen vor eines weißen Brunnen Spielen, / ich, ich und ich, ich hab’s erfunden. / Hör auf, nach dem Kellner, exazerbierend unterernährt zu schielen.“

Dass dem Text gleichsam noch der Entstehungsprozess eingeschrieben ist, wird im weiteren Verlauf des Gedichts durch ein durchgestrichenes Wort angezeigt, das durch ein im Hinblick auf den nötigen Reim korrektes ersetzt wird. Auf das Ghasel folgt ein englischsprachiges Gedicht, das einen ganzen Reigen von entweder ausschließlich englischen oder auch englisch-deutschen Texten eröffnet, die den gesamten Band durchziehen: „I sing international in private / And the man in me goes la la la la / la la la la la“ – das ist zunächst pretty funky, wird spätestens nach dem dritten Gedicht aber leider auch schnell pretty langweilig, umso mehr, als dieses, wie auch die meisten der anderen polyglotten Gedichte, in ihrer (vermeintlich) hippen Adaption der globalen lingua franca zwar als gelungener Ausdruck des Zeitgeistes gesehen werden kann, darüber hinaus inhaltlich jedoch vergleichsweise übersichtlich ist.

Zweifellos: Auf jedem Poetry-Slam gewönne Cotten damit spielerisch die Begeisterung des Publikums, und obschon es müßig ist, die Unterschiede zwischen mündlich-vorgetragener und schriftlich-fixierter Lyrik zu thematisieren, so zeigt sich doch in vielen von Cottens Gedichten just dieses Problem: Mögen ihre Texte sprachlich und klanglich auch ansprechend sein, so halten doch nur wenige dem wiederholten Lesen stand, ohne dass die inhaltlichen Defizite deutlich würden. Während dieser Umstand gerade in ihrem langen – mit fast 100 Seiten für den Leser beinah schmerzhaft überlangen – „Theorie“-Prosatext „Der Cocker“ schon nach wenigen Seiten selbst für wohlgesonnene Rezipienten zum schnellen Vorblättern führen dürfte, steht ein Gedicht wie „Variationen über ein Fragment von Sappho“ diesem Eindruck erfreulich eindrücklich entgegen: „Alle schlafen / der Mond ist hell und klar, / nur ich ruh lose umher, / denk an ein Gedicht // Alle schlafen / der Mond bleibt kleben / ich rau und unklar / auch hier // Schlafen alle und der Mond/ ist da und da/ ich auch/ du nicht// Ich bin da und schlaf nicht/ mit wem sollt ich / für den Mond ist das / egal, er hat die Plejaden. […]“

Auch hier ist der Effekt des gesprochenen Textes sicherlich dem bloßen Leseeindruck weit überlegen, und man könnte sich (aber eben tatsächlich nur konjunktivisch) fragen, warum man überhaupt Variationen über Sapphos wunderbares Fragment über Einsamkeit und sexuelle Frustration verfassen sollte, die dem Original mit schon fast an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unterlegen bleiben müssen; dennoch zeigt Cotten hier eine lyrische Sensibilität, die dem Gros der anderen in diversen Stimmen verfassten Gedichten nicht allzu häufig zu eigen ist. Insgesamt erweisen sich die „Florida Räume“ somit als eine theorieverbrämte, postmodern-polyphone Assemblage unterschiedlicher Formen des lyrischen beziehungsweise literarischen Sprechens, bei der die akustische Qualität der Texte ihre inhaltliche meistenteils weit überragt. Das kann man für einen großen Wurf halten – muss man aber nicht. Es gar für „das Beste“ zu halten, was die deutsche Gegenwartslyrik zu leisten vermag, ist allerdings auf jeden Fall eindeutig zu hoch gegriffen.

Titelbild

Ann Cotten: Florida-Räume.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
287 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783518421321

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