Es geht nicht um die Einwanderer

Die Deutschlandstiftung Integration hat einen Sammelband zur Sarrazin-Debatte herausgegeben

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manchmal, wenn man gerade nichts Besseres zu tun hat, fragt man sich, was eigentlich die Mehrheit in unserer Gesellschaft denkt. Um eine Antwort zu finden, empfiehlt sich die folgende Methode: Man tippt in eine beliebige Suchmaschine „Tabu“ oder „Tabubruch“ ein. Wer dann auf der Liste ganz oben steht, bezeichnet mit einiger Sicherheit das, was weitgehend Konsens ist.

So hätte man Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ in seinen am meisten diskutierten Teilen – denen zu Integrationsproblemen muslimischer Immigranten und ihrer Nachkommen – eigentlich gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen müssen. Dass es diese Probleme gibt, ist seit vielen Jahren bekannt. Verschiedene Lösungsansätze werden seit langem erprobt. Wesentlich Neues hat Sarrazin hier nicht beizutragen.

Er hat freilich nicht nur längst bekannte Missstände aufgezählt und sich dabei etliche Manipulationen von Statistiken erlaubt, sondern mit Hilfe pseudowissenschaftlicher Suggestionen Verbindungen zwischen Biologie, Religion, Schicht und Intelligenz behauptet. Konsequent unterscheidet er staatlich erwünschte und unerwünschte Kinder und ruft nach Lenkungsmaßnahmen, um das zu fördern, was er für intelligenten Nachwuchs hält.

Nun hätte man sogar das als den üblichen Unfug übergehen können, wie er tagtäglich in größeren Mengen durch die Medien rauscht. Allerdings ist Sarrazin seit langem ein medial erfolgreicher Provokateur – seine Verhöhnung von Hartz IV-Empfängern, denen der Großverdiener bis aufs Gramm Margarine vorrechnete, wie gut sie es doch hätten, ist noch gut in Erinnerung. Oder sein Vorwurf an Türken, sie produzierten ständig neue kleine „Kopftuchmädchen“, als würden Türkinnen bereits mit verdeckten Haaren geboren und wäre nicht die mehr oder minder freiwillige Entscheidung fürs Kopftuch sozial bedingt – dies bereitete schon die konsequente Biologisierung des Sozialen, wie sie sich in „Deutschland schafft sich ab“ findet, öffentlichkeitswirksam vor. Die Vorabveröffentlichung geschickt ausgewählter Passagen im „Spiegel“ und der „Bild“-Zeitung verhalfen dem selbsternannten Tabubrecher zu einem Maximum an öffentlicher Wirksamkeit.

Ein solches Vorgehen stellt die Gegner vor eine bittere Wahl: zu schweigen und Sarrazins Rassismus das Feld zu überlassen oder zu protestieren und ihn in die taktisch vorteilhafte Opferposition zu bringen. Das Dilemma zeigt auch der vorliegende Band, in dem Zeitungsbeiträge aus den ersten Wochen nach der Veröffentlichung gesammelt sind. Sarrazins Verteidiger stützten sich auf die breit bekannten Vorabdrucke und damit auf einen leicht vermittelbaren Teil des Buches, der bei aller Trivialität doch ein paar nachvollziehbare Beobachtungen enthielt. Die Gegner bezogen sich auf das ganze Buch und damit auch auf die eugenischen Züchtungsphantasien, die dessen übelsten Teil ausmachen.

Der Band veranschaulicht damit vor allem das Scheitern einer Debatte, die zu keiner vernünftigen Einigung führte. Zwar wurden vielfach gute Argumente vorgebracht. Doch verstärkte jede Widerlegung Sarrazins Status als Opfer. Als er, finanziell gut versorgt, den Bundesbankvorstand verließ, schrieen seine Anhänger, damit werde eine bürgerliche Existenz vernichtet – dabei beträgt seine Pension ein Mehrfaches dessen, was sich die von ihm verhöhnten Hartz IV-Empfänger in ihren kühnsten Wünschen vorstellen. Je kritisierter er wurde, desto populärer wurde der Mann.

Die Herausgeber haben, abgesehen von einem kurzen Vorwort, auf jede Wertung verzichtet und die Beiträge lediglich unkommentiert chronologisch aneinandergereiht; ein wenig Hilfe zur Strukturierung, über die man dann ja hätte streiten können, wäre von Vorteil gewesen. Der Schwerpunkt liegt auf überregional wichtigen deutschen Tages- und Wochenzeitungen; vertreten ist mit „Hürriyet“ auch eine türkische Publikation. Leider fehlt das ganze Spektrum rechts der CDU, von der „Jungen Freiheit“ bis zur „Nationalzeitung“ – das kaum zufällige Lob, das Sarrazin gerade in rechtsextremen Kreisen zuteil wurde, hätte den Inhalt seiner Thesen gut beleuchtet.

Im Rückblick wird deutlich, dass sich die frühe Phase der Debatte auf Integrations- und Migrationsprobleme konzentrierte. Sarrazins Angriffe erscheinen damit als Angriffe auf bestimmte Gruppen von Einwanderern, damit auf einen Personenkreis, der aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft relativ leicht biologisch und kulturell abzugrenzen ist. Doch sollten sich die Leser der „Bild“-Zeitung, die Sarrazin beharrlich verteidigte, nicht zu früh freuen. Zwar bekommen sie eine Opfergruppe präsentiert, gegenüber der sie sich höherwertig vorkommen mögen. Zuletzt aber geht es auch gegen sie und gehen Sarrazins eugenische Züchtungsphantasien mit einem Sozialrassismus einher, der sich auch gegen die Unterschichten wendet. Vom Sozialstaat würde, ginge es nach Sarrazin, nicht mehr viel übrigbleiben.

Hieraus lässt sich wohl auch die historische Funktion von „Deutschland schafft sich ab“ erklären. Über das Buch wird in einer Situation gestritten, in der die Vertreter eines ethnisch indifferenten Neoliberalismus einerseits noch die meisten gesellschaftlichen Machtpositionen besetzt halten, andererseits ihre kulturelle Hegemonie nach der letzten Wirtschaftskrise beschädigt ist. In dieser Lage mag der Gedanke an eine Verschärfung der Gangart reizvoll erscheinen: Wo eine offensichtlich beschränkte ökonomistische Weltsicht nicht mehr ausreicht, braucht man zur weiteren Mobilisierung Feindbilder. Die verarmende Unterschicht und die den sozialen Abstieg fürchtende Mittelschicht sollen die Verschlechterung ihres Lebens akzeptieren, weil sie auf eine noch ärmere Gruppe gehetzt werden.

Das alles wird in den hier versammelten Beiträgen vom September 2010 noch nicht analysiert. Halbwegs beruhigend ist jedenfalls, dass die wichtigsten Politiker auch der CDU und die tonangebende „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ den aggressiven Tönen Sarrazins noch nicht folgen wollen.

Freilich werden in der Praxis Teile seines Programms bereits umgesetzt. Zwar gibt es die 50.000 Euro „Wurfprämie“ für die junge, erbgesunde und akademisch ausgebildete Mutter, die er sich wünscht, noch nicht. Doch weist Gesine Lötzsch in einem der klügsten Artikel im Sammelband darauf hin, wie tatsächlich schon heute Kinder reicher Eltern durch Steuererleichterungen zusätzlich gefördert werden, während das Elterngeld für Arbeitslose abgeschafft wird. Möglich ist, dass sich die von Sarrazin erhoffte soziale Ausgrenzung auch ganz ohne das allzu auffällige Geschrei, das er veranstaltet, vollzieht.

Titelbild

Deutschlandstiftung Integration (Hg.): Sarrazin. Eine deutsche Debatte.
2. Auflage.
Piper Verlag, München 2010.
239 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783492054645

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