Schmerzhafte Leere

In Olivier Adams Roman „Gegenwinde“ kreist eine Familie um die spurlos verschwundene Mutter

Von Philipp HammermeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Hammermeister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Paul Anderen weiß um seine Schwächen. Er hat einige Kilo zu viel und bereits ein paar Haare und Zähne zu wenig. Er ist cholerisch, grob, unzuverlässig und maßlos, wenn es um Alkohol und Zigaretten geht. Er weiß, dass sein schwieriger Charakter seiner Frau Sarah mehr als genug Gründe gäbe, ihn zu verlassen – und ist dennoch schwer getroffen, als sie es tatsächlich tut. Ihr Auto steht ordentlich geparkt am Ufer der Seine, ihre Handtasche mitsamt allen Papieren liegt auf dem Beifahrersitz, von ihr selbst aber fehlt jede Spur. Für die Polizei ist die Sache klar: Sarah ist entweder durchgebrannt oder tot und bleibt auf jeden Fall verschwunden. Für Paul sieht die ganze Geschichte verständlicherweise anders aus, denn Sarah hat nicht nur ihn, sondern auch die beiden gemeinsamen Kinder Clément und Manon zurückgelassen. Für die entkernte Kleinfamilie beginnt nun eine Zeit des zermürbenden Wartens und der lähmenden Ungewissheit, an deren Ende ein unvermeidlicher Neuanfang steht. In St. Malo, Pauls Heimatstadt an der wind- und meerumbrausten bretonischen Küste, versuchen die drei, den Erinnerungen an das vermeintlich glückliche Leben zu viert zu entkommen. Erinnerungen aber lassen sich durch einen Umzug nicht einfach abhängen.

„Gegenwinde“ ist einer jener Familienromane, die ihren Kern, die Familie, als äußerst zerbrechliches und gefährdetes Gefüge zeigen. Olivier Adam spürt in ihm der Frage nach, wie das Leben eigentlich weitergehen kann, wenn die Person, die bis vor kurzem noch das selbstverständliche Zentrum des Zusammenlebens bildete, plötzlich verschwindet und damit nicht nur eine große Lücke, sondern auch viele Fragen, aber keine einzige Antwort hinterlässt. Für die Familie Anderen wird dieser Ausnahmezustand zu einer Gewohnheit, die sich weigert, gewöhnlich zu werden. Der ständige Wechsel zwischen Hoffnung und Resignation, zwischen der Trauer über den erlittenen Verlust und der Wut über den erfahrenen Verrat verhindert, dass Paul und seine Kinder in ein emotionales Gleichgewicht zurückfinden. Vor allem ihm, dem hadernden Familienvater, der befürchtet, seine Frau vergrault und seine Familie zerstört zu haben, und der sich deshalb umso verzweifelter an die Möglichkeit von Sarahs Rückkehr klammert, widmet sich Adam mit großer Sensibilität und großem Einfühlungsvermögen.

Die raue Ärmelkanalküste bildet für einen solchen familiären Selbstfindungsroman den passenden Hintergrund. Die gewaltige Wucht des bretonischen Winters mit seinen Stürmen und Springfluten, mit den Regengüssen und Schneefällen scheint die Befindlichkeiten von Paul und seinen Kindern weit besser wiederzugeben, als diese selbst es zu tun vermögen. Gleichzeitig wohnt für die drei diesem Ausgeliefertsein an die Elemente auch etwas Beruhigendes inne. Der unabänderliche Rhythmus der Ge- und Jahreszeiten beweist, dass die Zeit selbst dann vergeht, wenn man dies vor lauter Benommenheit nicht glauben kann. Der Schmerz verfrorener Hände und Füße zeigt, dass ihre Körper noch zu Empfindungen fähig sind, obwohl sie wie betäubt wirken. Und selbst den Möwen mit ihrer scheinbar unbegrenzten Widerstandskraft und Duldsamkeit kann Paul noch etwas Tröstliches abgewinnen. Die ausgiebigen Landschaftsbeschreibungen erfüllen bei Olivier Adam also keinen Selbstzweck. Der Mensch steht bei ihm im Vordergrund, nicht die Natur, wenngleich diese ihm einen reichhaltigen Vorrat an Zeichen und Bildern bietet, die immer wieder auf den Kern der Erzählung verweisen: den Umgang mit der schmerzlichen Leere nach einem Verlust.

Da seine letzten Tantiemen seit einiger Zeit aufgebraucht sind, beginnt Paul, der Schriftsteller, der nicht mehr schreiben will und nicht mehr schreiben kann, als Fahrlehrer in der Fahrschule seines Bruders Alex. Dass er weder Ausbildung noch Führerschein besitzt, stört dabei niemanden. Auf den leeren Küstenstraßen sind die Gefahren überschaubar und wichtiger als die Fahrstunden sind ohnehin die Zigarettenpausen mit seinen Schülern und Schülerinnen. Sie konfrontieren ihn mit einer Welt voller altbekannter Probleme, die er in Paris bereits hinter sich gelassen glaubte. Die junge Justine träumt von einem Leben in den Bars der Großstadt, weit weg von ihrem prügelnden Stiefvater und ihrer fügsamen Mutter. Bréhel hat wegen des Alkohols erst seinen Führerschein, dann seinen Job und bald auch seine Wohnung verloren und hofft nun auf einen Neubeginn. Die alte Elise droht nach dem Tod ihres Mannes zu vereinsamen und nur der Führerschein bietet ihr die Möglichkeit der Isolierung zu entkommen. Paul gelingt das große Kunststück, all diesen hoffnungsvollen und hoffnungslosen, gescheiterten und scheiternden Figuren auf Augenhöhe zu begegnen, ohne sich anzubiedern. Die Welt der zerrütteten Familien und gestörten Beziehungen ist mehr denn je seine eigene geworden, so dass seine Anteilnahme an den Problemen der anderen aus ehrlicher Betroffenheit herrührt.

Dass der Roman dabei an keiner Stelle ins Rührselige kippt, ist wiederum Olivier Adams größtes Verdienst. Er ist ein sensibler, aber kein sentimentaler Autor. Seine Sprache ist einfühlsam, aber nicht pathetisch. Sein Ton nüchtern und klar, statt überladen und kitschig. Er hat einen genauen Blick, für die menschlichen Eigenarten und Besonderheiten und widmet sich auch und insbesondere den einfachen Charakteren auf so liebe- wie respektvolle Art und Weise. Mit dem schnoddrigen und gleichzeitig liebenswürdigen Paul hat er einen zu seinem Erzählstil kongenial passenden Erzähler gefunden. Mit seiner offenen und ehrlichen Art wird dieser schnell und eher unfreiwillig zum wichtigen Bezugspunkt für eine ganze Reihe gesellschaftlicher Randfiguren, die alle die ernüchternde Ahnung eint, dass Glück wohl theoretisch möglich, für sie aber praktisch unerreichbar ist.

Dabei hat Paul mit dem Kampf um sein eigenes Familienglück eigentlich genug zu tun. Clément und Manon haben das Verschwinden der Mutter nur auf den ersten Blick verkraftet. Mit dem Voranschreiten der Erzählung wird deutlich, wie sehr die Ungewissheit über Sarahs Verbleiben in ihnen arbeitet. Der ohnehin introvertierte Clément schottet sich noch mehr von seiner Umwelt ab. Die hysterische Manon reagiert gar körperlich mit Asthma- und Panikattacken. Von ihren neuen Mitschülern werden sie gehänselt, von den Lehrerinnen misstrauisch beäugt. In solch einer Situation wird aber selbst eine beschädigte Familie zum funktionierenden Schutzraum und Paul immer mehr zu einer Art Fels in der bretonischen Brandung. Mit großer Hingabe, Zärtlichkeit und beinah übertriebener Nachsicht versucht er, seine neue Rolle als alleinerziehender Vater zu finden und den bereits offensichtlichen Schaden für seine Kinder so gering wie möglich zu halten. Dass auch noch Weihnachten vor der Tür steht, macht diese Aufgabe nicht einfacher.

„Gegenwinde“ ist ein sensibles Sozialdrama und eine Art literarisches Gegenstück zu den Filmen der Gebrüder Dardenne. Olivier Adam nimmt sich mit großer Aufmerksamkeit den einfachen Menschen und ihrer gar nicht so einfachen Probleme an. Er begegnet ihnen mit einer Ernsthaftigkeit, die auch in noch so zerrütteten Existenzen Würde- und Liebevolles entdeckt. Er zeigt eine Welt, in der funktionierende Beziehungen die Ausnahme und glückliche Familien eine Besonderheit sind. Dennoch gibt es sie und gerade ihre Seltenheit macht sie nur noch wertvoller und schützenswerter.

Leider aber traut Adam seinem Buch am Ende selbst nicht so ganz über den Weg. Anstatt die Hintergründe von Sarahs Verschwinden im Nebulösen zu belassen und damit die Atmosphäre des steten Zweifelns, Träumens und Spekulierens zu bewahren, die den Roman über weite Strecken so hervorragend trägt, entwickelt er kurz vor Schluss noch kriminalistischen Ehrgeiz. Ein Frauenmörder wird überführt und Sarah als eines seiner Opfer identifiziert. Für Paul und seine Kinder weicht die hoffnungsvolle Unbestimmtheit also einer desillusionierenden Klarheit. Sie erhalten die so lang erhoffte Gewissheit, bezahlen dafür aber den hohen Preis, sich endgültig von allen Hoffnungen auf die Wiederherstellung ihres früheren Lebens verabschieden zu müssen. Und trotzdem zeigt Olivier Adam in „Gegenwinde“, dass auch das spurlose Verschwinden einer Mutter gute Seiten haben kann, nämlich genau 270.

Titelbild

Olivier Adam: Gegenwinde. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Andrea Spingler.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011.
270 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783608938876

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