Zur Feier der Lyrik – nach konservativem Konsens

175 Jahre nach der Erstpublikation erscheint der „Echtermeyer“ in einer aktualisierten Jubiläumsausgabe: „Deutsche Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart“

Von Felix Philipp IngoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Philipp Ingold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lyrikanthologien gehören – neben Familiensagas, Krimis, Fantasy- und Science Ficition-Romanen – zur derzeit beliebtesten Buchhandelsware. Im Unterschied zu den Gedichtbänden einzelner Autoren, die zumeist in Kleinstauflagen herausgebracht und kaum noch besprochen werden, erreichen poetische Sammelwerke ein verhältnismässig breites, insgesamt sehr disparates Publikum, das von der Laufkundschaft am Bahnhofskiosk bis zu den Großschriftleserinnen im Seniorenheim reicht. Nice to have! Ob und wie aber die vorab als Geschenkbücher oder Reiselektüre erworbenen Anthologien genutzt werden, bleibt offen. In der Schule wie auch im Feuilleton finden sie kaum noch Interesse.

Wenn nun neuerdings – 175 Jahre nach Erscheinen des Erstdrucks von 1836 – die durch Theodor Echtermeyer begründete „Auswahl deutscher Gedichte für die untern und mittlern Classen gelehrter Schulen“ in zwanzigster, stark überarbeiteter und ergänzter Auflage ein weiteres Mal herausgebracht wird, dürfte es angezeigt sein, dieses große anthologische Unterfangen nach seiner heutigen Opportunität und Tauglichkeit zu befragen. Tatsächlich hat der „Echtermeyer“ – Herausgebername und Werktitel sind längst identisch geworden – über viele Generationen und manche Lyrikepochen hin kanonbildend gewirkt, er ist im Verlauf seiner Publikationsgeschichte für wechselnde Trends und Vorlieben, auch Vorurteile und Fehleinschätzungen eingestanden, ohne dabei seinerseits irgendwelche neuen Entwicklungen aufzuzeigen oder gar zu initiieren.

So hat der „Echtermeyer“ nicht allein die langzeitige Verkennung Friedrich Hölderlins mitgetragen, er hat auch undifferenziert auf dem Primat der balladesk-narrativen gegenüber der lyrisch-formalistischen Dichtung beharrt, als diese mit Arno Holz oder Paul Scheerbart bereits an der Schwelle zur „revolutionäre“ Moderne angelangt war. Ebenso undifferenziert und unkritisch ist er später (in der Ausgabe von 1936) auf die vom Nationalsozialismus privilegierte vaterländische Naturpoesie eingeschwenkt und hat nach dem Weltkrieg unter der Herausgeberschaft von Benno von Wiese während Jahrzehnten (bis 1987) an einer konservativen Literaturästhetik festgehalten, die für thematische und formale Neuerungen weitgehend blind blieb.

Solchen Konservatismus versuchen die seit 2005 für den „Echtermeyer“ verantwortlichen Editoren Peter Geist und Elisabeth K. Paefgen hinter sich zu lassen, indem sie die jüngste (noch immer „für Schulen“ konzipierte) Ausgabe dezidiert zur aktuellen Lyrikszene hin öffnen und zahlreiche Musterstücke aus jüngster Produktion mit in den Band aufnehmen, der nun also „von den Anfängen bis zur Gegenwart“ reicht und – laut Klappentext – eine „repräsentative Auswahl von 850 Gedichten aus der Feder von mehr als 220 Dichterinnen und Dichtern“ zu lesen gibt. Dass hier trotz Aktualisierung nach wie vor die Feder (Kiel oder Stahl?) als das gebräuchliche Schreibgerät für Lyrik hochgehalten wird, macht deutlich, dass der Konservatismus beim „Echtermeyer“ noch immer nicht wirklich überwunden ist, und die herausgeberischen Kommentare zu den beiden jüngsten Auflagen bestätigen es durch ihre ziemlich hilflos wirkende Unentschiedenheit, die im Lavieren zwischen Ja und Aber, zwischen Sowohl und Als-auch befangen bleibt.

Zwar soll der „Echtermeyer“ durch „zahlreiche jüngere Lyrikerinnen und Lyriker“ aktualisiert werden, er will aber auch die „Präsentation des Bewährten und Tradierten“ weiterpflegen; er will „sowohl den lyrischen Kanon“ beliebt machen, als auch „auf fremde Spuren“ [sic?] hinführen; er hält nicht nur „die schulische Vermittlungstradition im Blick“, sondern auch „neue lyrische Angebote“, nur dürfen die „neuen Stimmen“ keinesfalls „das Alte vergessen lassen“ – die allzu häufige Wiederholung dieser rhetorischen Beschwichtigungsgeste macht den Kleinmut der Herausgeber umso augenfälliger und gibt ihm eine geradezu peinliche Anmutung. Die Peinlichkeit konkretisiert sich zusätzlich dort, wo die „neue Dichtergeneration“ auf der Betriebsbühne vorgeführt wird in den Rollen von „Neo-Pathetikern, Sprachpuristen und -Alchimisten, postmodernen Simulationsexperten, Bilderbauern [sic!], Sozialsurrealisten und Deskriptiven“, welche angeblich „soziale Realität wieder tiefenschärfer ins Gedicht“ holen oder sich „experimentierend in den Spannungsfeldern zwischen Körper-Sprachen und Sprach-Körpern“ abarbeiten. So what?

Zumindest dies kann positiv vermerkt werden, „dass der neue ‚Echtermeyer‘ nunmehr den lyrischen Entwicklungen gegenwärtiger wie auch den Traditionen vergangener Jahre gerechter wird“. Gerechter? Ob es eine Steigerungsform zu „gerecht“ überhaupt gibt? Tatsache ist, das der „Echtermeyer“ von den Merseburger Zaubersprüchen via Hans Sachs und das deutsche Volksliedgut bis hin zu Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann nichts merklich Alternatives zu vergleichbaren Anthologien zu bieten hat und dass er im 19. Jahrhundert (etwa durch die allzu hochrangige Gewichtung von Autoren wie Brentano, Eichendorff, Mörike, Storm) weiterhin einen konservativen Konsens anstrebt. Neue Akzentsetzungen sind in diesem Bereich ebenso wenig zu erkennen wie im großzügig erweiterten Einzugsgebiet der neueren und jüngsten deutschsprachigen Lyrik – da wie dort trifft man auf die zu erwartenden, auch andernorts immer wieder (und oft mit den selben Texten) präsentierten Autoren, die einstehen sollen für das, was gegenwärtig gefragt ist und belobigt wird, was man also auch im „Jahrbuch der Lyrik“ und manchen Magazinen oder Zeitschriften für lyrische Gegenwartsmoden vorfinden kann.

Blättert man den „Echtenmeyer“ von hinten auf, findet man zunächst – wenig überraschend – das Namensverzeichnis der im Band vertretenen Autoren sowie den Titelindex vor, dann – als konzeptuelles Relikt aus den Anfängen dieser Textsammlung – eine Zusammenstellung der Gedichte nach Themen und Motiven sowie das Quellenverzeichnis und – einzige Besonderheit dieser Anthologie – eine Übersicht zu den Originalskripten, die in der Anthologie jeweils ganzseitig reproduziert sind. Weiter von hinten nach vorn kommen nun – die jüngsten zuerst – die einzeln datierten Gedichte in den Blick. Das erste in dieser Reihe ist von 2007, und blättert man nochmals um hundert Seiten zurück, erreicht man die 1970er-Jahre, was insgesamt der Zeitspanne einer Generation und damit ungefähr dem entspricht, was als „Gegenwartslyrik“ zu rubrizieren ist.

Die „Gegenwartslyrik“ würde demnach im Umkreis von Robert Gernhardt, Elke Erb, Ulla Hahn einsetzen, würde sich fortentwickeln über Wolfgang Hilbig, Bert Papenfuss-Gorek, Kurt Drawert bis hin zu Steffen Popp und Uljana Wolf und Monika Rinck, abgesehen von der erfolgreichen Sparte der Pop- und Rap-Poesie, die auch der neueste „Echtermeyer“ völlig ausseracht lässt. Weder formal noch thematisch ist bezüglich dieser „Gegenwart“ ein poetischer Epochenstil auszumachen. Zu rasch wechseln Trends und Moden einander ab, es kommt zu kurzfristigen, meist aus Gruppenbildungen erwachsenden Produktionsschüben mit erkennbar gemeinsamer Poetik und individuellen Leitfiguren (wie Thomas Kling, Durs Grünbein, Gerhard Falkner, Franz-Josef Czernin und andere), die ihren prägenden Einfluss allerdings bald wieder einbüssen und nach 2000 abgelöst werden durch eine Vielzahl von umtriebigen Jungautoren und -autorinnen, die sich weder um einen Epochenstil kümmern, noch sich um ihren eigenen Personalstil bemühen, für die vielmehr Stillosigkeit oder Stilsynkretismus charakteristisch zu sein scheinen. Dass der tendentiell konservative „Echtermeyer“ eine durchaus repräsentative Reihe derartiger Plauder- und Wikilyrik Revue passieren lässt, ist angesichts von deren aktueller Hochkonjunktur kein besonderes Verdienst, zeigt aber doch, wie offen und weitläufig er neuerdings angelegt ist.

Ex negativo ließe sich die aktuelle Lyrikproduktion vielleicht doch noch auf eine Gemeinsamkeit zurückführen, und zwar auf die bemerkenswerte Tatsache, dass sie sämtliche Verbote und Verzichtleistungen ignoriert, die einst Gottfried Benn der „modernen Lyrik“ auferlegt hat – vom allzu häufigen Einsatz des „lyrischen Ich“ und der „Du!“-Anrede von Gegenständen bis hin zum fahrlässigen Gebrauch von Farbadjektiven, Genetivmetaphern und „Wie“-Vergleichen. All dies ist in jüngster Lyrik reichlich vorzufinden, und Beispiele dafür ließen sich seitenweise zitieren. Dazu kommt die Reaktivierung eines vagen „lyrischen Wir“, das hier jedoch nicht (wie einst in politischer Dichtung) auf soziale oder parteiliche Gemeinschaft verweist, sondern auf die endlos vielen, kaum noch unterscheidbaren Stimmen, die manche Lyrikerinnen und Lyriker heutzutage in sich murmeln oder murren hören.

„Das Gedicht ist ein Sieb, / in die Fremde gehalten“, liest man in einem kleinen Stück von 2004 – es könnte, so schlicht der Vergleich sich auch ausnimmt, der poetologische Leitsatz für heutiges Dichten sein. Für Verse wie diese: „ach wär ich nur im aufwachraum geblieben / traumverloren tropfgebunden unter weissen // laken neben andern die sich auch nicht fanden“; oder diese: „wir denken uns ein Land und vögeln / bis ein Heiland niedergeht, und / schieben Einkaufswagen durch / einen schwerbestückten Laden“; und auch: „ich bin ja da, ich / kümmer mich, hortensie, kennst du die lampen nicht, / denen du das vorbild gibst, rund (natürlich rund) und / so beliebt in clubs und retro-diskotheken? kennste nicht“; dazu passend noch: „… beschließe meist einfach die Nacht hier zu genießen. / Die Blumen sah ich keimen oder keimen müssen / die Knospen größer werden und dann nach und nach sich häuten / weil diese Dinge sich in meine Sinne bläuten.“ Was an die romantischen Anfänge des „Echtermeyer“ erinnert.

Titelbild

Elisabeth Paefgen / Peter Geist (Hg.): Echtermeyer Deutsche Gedichte.
Cornelsen Verlag, Berlin 2010.
942 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783060619320

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