Gott, die Welt und Arno Schmidt

In Uwe Timms neuer Novelle „Freitisch“ erinnert man sich voller Gelassenheit an die Träume von einst

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den meisten Novellen wird viel gekocht und eine Menge gegessen, behauptet eine Figur in Uwe Timms aktuellem Erzählwerk „Freitisch“. Auf die in diesem Zusammenhang erwähnte Falkennovelle des Giovanni Boccaccio – die neunte Geschichte des fünften Tages in dessen „Dekameron“, welche Paul Heyse zu seiner „Falkentheorie“ inspirierte – trifft das zu. Auch Timm selbst hat mit „Die Entdeckung der Currywurst“ ein beliebtes Nahrungsmittel unserer Tage 1993 novellistisch geadelt. Im aktuellen Text des 71-Jährigen nun versammelt man sich gar permanent um warme Mahlzeiten, allmittäglich gesponsert für bedürftige Studenten von einer großen Münchner Versicherung.

Timms Novelle besteht – durchaus genrekonform – aus einer Rahmen- und einer Binnenhandlung. Erstere spielt in unseren Tagen in Anklam, letztere 1965 in München. Die Verbindung zwischen den verschiedenen Zeiten und Orten wird mittels einer Gesprächssituation, in der zwei Ex-Kommilitonen sich nach rund vier Jahrzehnten wiederbegegnen, hergestellt. In einem Anklamer Caféhaus tauschen die beiden Erinnerungen an jene Zeiten aus, da man sich noch nicht scheute, den ganz großen Zukunftsträumen nachzuhängen. Das Leben im Anschluss an die Universität verlief dann aber wohl etwas anders als ersehnt.

In der Gegenwart jedenfalls führt der Ich-Erzähler inzwischen ein kleines Antiquariat in der Stadt an der Peene. Als Lehrer für Deutsch und Geschichte ist er nach der Wende in den Osten gekommen. Der andere – mit dem Spitznamen Euler – ist als erfolgreicher Geschäftsmann und Investor unterwegs und sucht nach dem geeigneten Standort für eine neu zu erbauende Mülldeponie. So weit hat er die gemeinsame Münchner Vergangenheit bereits hinter sich gelassen, dass er erst einmal an die Zeit der studentischen Freitische erinnert werden muss. Dann aber ergibt eines das andere und bald hat man gemeinsam zurückgefunden zu jenen aufregenden Jahren, in denen man nichts sein oder werden wollte denn Schriftsteller und alle sich verneigten vor dem leuchtenden Vorbild des großen Arno Schmidt.

Schmidt stellt wohl so etwas dar wie das Novellensymbol in diesem kleinen Text, seinen „Falken“. Er taucht nicht nur in Gestalt einer Vielzahl von Zitaten und Anspielungen, sondern auch höchstselbst in ihm auf. Einem der insgesamt vier Verehrer vom Münchner Freitisch gelingt es schließlich sogar, auf einen kurzen Moment in die Bargfelder Einsiedelei hineinzukommen. Das Gespräch mit dem verehrten Meister verläuft dann allerdings ziemlich enttäuschend. Andererseits verbirgt sich hinter dem Namen Schmidt, wie ein Feldzeichen aufgestellt gegen alles Normale, Bürgerliche, Überkommene, der große Protest seiner Adepten gegen ihre Zeit, der hier – bis zu den Tagen der Studentenunruhen gehen noch Jahre ins Land – relativ friedlich, ja beinahe wohlerzogen, wenn auch nicht unpolitisch daherkommt.

Das alles – sowohl die Gespräche um den Freitisch in der Münchner Vergangenheit als auch die Erinnerungsarbeit, der sich der Ich-Erzähler und Euler in der Anklamer Gegenwart hingeben – ist nicht unbedingt aufregend. Aber es vermag zu fesseln dank der Kunst Uwe Timms, gelassen und souverän die Fäden zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu spinnen. Dank seiner unaufdringlichen Zeitgenossenschaft, die hinter jedem Satz zu spüren ist. So bekommen beide Zeiten ihre Signaturen, werden unterm Strich aber nicht gegeneinander ausgespielt. Und auch nur ein bisschen Wehmut schwingt zwischen den Zeilen mit, wenn man sich erinnert, wie weit alle Horizonte einst waren und zwischen welch engen Mauern man sich heute bewegt. Aber ist es nicht immer so? Will die Jugend nicht stets viel mehr als das, was das Leben ihr dann wirklich zu schenken bereit ist? Und sollte man nicht gelassen sein dieser Tatsache gegenüber, dankbar für das, was dennoch glückte?

„Freitisch“ ist ein Alterswerk im besten Sinne. Und zwar das eines Autors, der sich auskennt. Der die Kämpfe der letzten Jahrzehnte mitgekämpft hat und sich nicht scheut, auch heute wieder das Wort zu erheben, wenn es denn notwendig ist. Der keine Ausrufezeichen braucht, um durch Lautstärke auf sich aufmerksam zu machen. Entsprechend still und abgeklärt geht es zu auf den knapp 130 Seiten. Man zerfließt nicht in Nostalgie, sondern hier sitzen sich zwei Herren gegenüber, die angekommen sind in ihrer jeweiligen Gegenwart. Und deren Antwort auf die den Text beschließende Frage des Kellners, ob es noch etwas sein dürfe, wie ein ganz und gar nicht unglückliches Lebensfazit tönt: „Nein danke. Nur noch zahlen.“

Titelbild

Uwe Timm: Freitisch. Novelle.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011.
138 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783462043181

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