Der fernste Ort

Neue Bücher von Jan Wagner, Uwe Tellkamp und Lutz Seiler

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind zwar schon gut 20 Jahre vergangen, seit die Kulturwissenschaften ihren spatial turn einläuteten. Aber die Aufmerksamkeit für Orte, Räume und ihre Beschreibungen ist geblieben – auch in der Literatur. Das zeigt sich in Erzählungen über ferne Länder wie Christof Hamanns „Usambara“, Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ oder Ilja Trojanows „Der Weltensammler“, der gleich auf drei Kontinenten spielt, aber auch in der Lyrik. Im Folgenden geht es um gleich drei Erscheinungen der letzten Monate, sehr unterschiedliche Bücher, die aber das eine gemeinsam haben: die Erkundung ferner Orte, wobei die Entfernung zeitlicher oder räumlicher Natur sein kann – und manchmal auch beides.

Da wäre zunächst Jan Wagners vierter Gedichtband „Australien“. Anders als seine bisherigen Bände seit dem Debüt „Probebohrung im Himmel“ (2001) versammelt er hier Gedichte, deren gemeinsamer thematischer Fokus in der Reise liegt. Vier Abschnitte widmen sich den verschiedenen Himmelsrichtungen, wobei die einzelnen Gedichte sehr unterschiedlich ausfallen können. Zum „Süden“ etwa zählen nicht nur Chamäleon und Gecko und Gedichte über Orte wie Nikosia und den Comer See, sondern auch das große Gedicht „Von den Ölbäumen“, Motorradartist Evel Knievel findet in Wagners Universum ebenso Platz wie der Himmel über Ohio, Paul Gerhardt und Hiddensee. Diese thematische Offenheit tut dem Band gut, und einer der virtuosesten Lyriker seiner Generation ist Wagner ohnehin; die Lektüre ist ein großes Vergnügen, wie schon die der drei Vorgänger. Höhepunkt aber ist der letzte Abschnitt, Australien. Wie das gemeint ist, deutet schon das Motto des Bandes an: „Man ist glücklich in Australien, sofern man nicht dorthin fährt“ – der fünfte Kontinent also als Sehnsuchtsort, der nicht entzaubert werden darf, und dem man gerade deswegen fernbleibt. Aber darf man dieser Aussage trauen? Ihr Urheber ist nämlich ein gewisser Álvaro de Campos, den es gar nicht gab, außer als Pseudonym des großen portugiesischen Autors Fernando Pessoa. Und so handelt dieser letzte Teil dann auch eher von Wünschen als von realen Orten und Zeiten: „da hast du die einsamkeit: vier fenster / und eines davon die bucht, / die sich am morgen öffnet; wind, der / nach jedem knochen sucht / […] und hin und wieder / das rotkehlchen – die eine, leuchtende beere / des februar“.

Ein echter Höhepunkt ist dann das letzte Gedicht, das zugleich dem Band seinen Titel gibt. Zwei Jungen wollen sich durch die Erde nach Australien graben: „wie lange, bis wir es mit felsen / zu tun bekommen würden, kohle- / flözen / und erz? wie lange noch, bis irgendwo ein koala / die erde sich bewegen spürte, / um etwas seltsames zu sehen: / ein loch im boden, zwei verschmierte / jungen, die […] verschwanden in dem mythischen, dem most- / richgelben abend, wo am rand / ein spaten steckte wie ein fahnenmast.“ Dass Jan Wagners Lyrik ein möglichst großes Publikum finden möge, ist ihm nur zu wünschen.

Dieses Problem wird Uwe Tellkamp mit seinem Prosaband „Die Schwebebahn: Dresdner Erkundungen“ wohl nicht plagen. Natürlich drängt sich der Vergleich mit dem erfolgreichen Roman „Der Turm“ geradezu auf. Beide Texte betreiben eine Art von Archäologie, nämlich einen vergangenen Zustand Dresdens in der Sprache wieder lebendig werden zu lassen. Während sich der breit angelegte Roman ein bildungsbürgerliches Milieu und seinen Niedergang während der letzten sieben Jahre vor dem 9. November 1989 schilderte, ist „Die Schwebebahn“ zugleich breiter und enger angelegt. Enger, weil das Buch so etwas wie den „Turm“ ohne durchgehende Handlung versucht. Zwar tauchen einzelne, markante Figuren auf wie Tibor von Urvasi, der Vorsitzende der legendären Quittengesellschaft, oder General Paulus, der durch die Dresdner Frisiersalons der 1950er-Jahre geistert. Die Loslösung von einer bestimmten Epoche und handlungstragenden Figuren befreit aber den Erzählstrom, der die Freiheit gewinnt, nach Belieben zwischen den Zeiten zu gleiten, zwischen dem Dresden vor 1945, der DDR und der Gegenwart. Wer Tellkamp einmal dabei zugesehen hat, wie er solche Texte über Dresden improvisiert, wird von diesem hypnotischen Strom fortgerissen. Größtenteils hat er diese Kraft im Buch bewahren können. Stellenweise schießt das Buch jedoch über sein Ziel hinaus, etwa wenn die Lust zu fein ziselierten Sprachbildern mit dem Autor durchgeht und der Nicht-Dresdner sich beim Lesen doch etwas verloren vorkommt. Zum anderen liefert Tellkamp zwar nicht gerade Ostalgie ab (das läge dem Autor auch fern), doch manchmal wird die Kulturkritik allzu platt: „Es liegt der Abstand zweier Planeten zwischen uns, von denen der eine, das Dresden als DDR-Provinzhauptadt, mit dem Schelfeis der Vergangenheit bedeckt ist, und der andere, das Dresden der Gegenwart, mit digitalen Benutzeroberflächen.“ Über allem weht ein deutlicher Hauch von Melancholie. Wer Tellkamp als Autor zu schätzen weiß, kommt hier auf seine Kosten.

Bleibt schließlich noch Lutz Seiler, der nach „Die Zeitwaage“, seinem kunstvollen und sehr autobiografischen Erzählband von 2009, nun wieder einen Gedichtband vorlegt. „Im Felderlatein“ ist der erste seit acht Jahren – eine erstaunlich lange Pause im Leben eines Autors, der seinen Ruhm vor allem als Lyriker erworben hat. Teilweise ist „Im Felderlatein“ wieder von den Landschaften geprägt, denen Seiler schon in „Pech & Blende“ (2000) und „Vierzig Kilometer Nacht“ (2003) seine Reverenz erwiesen hat – das alte Uranbergbaugebiet bei Gera, in dem er seine Kindheit verbracht hat, und die einsamen Kiefernwälder von Brandenburg, wo er heute das Peter-Huchel-Haus betreut. Ähnlich wie Wagner (das ist aber auch die einzige Parallele) hat Seiler aber sein inhaltliches Spektrum erweitert, erzählt Liebesgeschichten wie in „aranka, schon der name“, schreibt von einem (gemalten) Schweizer Tal oder der Landschaft auf dem Darß. Am gelungensten ist aber wohl der erste Zyklus des Bandes, „ortsteile gab es, orte“, ein lyrisches Eintauchen in die Vergangenheit. Sprachlich viel knapper als Tellkamp, weniger virtuos als Wagner, sind diese Texte jedoch ganz bei sich selbst.

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Jan Wagner: Australien. Gedichte.
Berlin Verlag, Berlin 2010.
102 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783827009517

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Titelbild

Uwe Tellkamp: Die Schwebebahn. Dresdner Erkundungen.
Mit Fotografien von Werner Lieberknecht.
Insel Verlag, Berlin 2010.
167 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783458174899

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Titelbild

Lutz Seiler: Im Felderlatein. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
102 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421697

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