Wie der politische Alltag zu Literatur wird

Zu Jakob Arjounis Roman „Cherryman jagt Mister White“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ja, es gibt sie und sie sind seit geraumer Zeit Gegenstand der Fachpresse und der Fachliteratur: die sogenannten „national befreiten Zonen“. Literarisch wurde dieses Phänomen, dessen Schwerpunkt in Ostdeutschland liegt und seine Ursachen unter anderem in Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit und mangelnden sinnvollen Angeboten an Jugendliche hat, bisher nicht bearbeitet. „Cherryman jagt Mister White“, Jakob Arjounis neuer Roman, setzt hier an.

Im fiktiven Ort Storlitz im Berliner Hinterland lebt der 18-jährige Rick. Seine Eltern sind vor langer Zeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen, Tante Bambusch, die zwar nicht seine echte Tante ist, aber schon immer auf ihn aufgepasst hat, hat ihn adoptiert. Seit er die Realschule beendet hat, geht es ihm so wie vielen anderen am Ort: er findet keine Lehrstelle, hängt rum. Doch im Gegensatz zu Mario, Vladimir, dem fetten Robert und dem debilen Heiko hat er echte Interessen, kümmert sich um Tante Bambuschs Garten und zeichnet Comics. Und weil er anders ist, sich den einfältigen Routinebesäufnissen auf Supermarktparkplätzen, den halbstarken Rempeleien und Pöbeleien entzieht, wird er drangsaliert und gequält, werden seine Katzen vor seinen Augen getötet, wird ihm Schutzgeld abgepresst. Nie verwunden hat er den Anschlag mit rostigen Nägeln auf Tante Bambuschs Kirschbaum, der daraufhin jämmerlich einging. Verarbeitet hat er dieses traumatische Erlebnis mit dem Stift in der Hand, woraus der Superheld Cherryman entstanden ist, der seine Feinde mit Ästen und Zweigen zur Strecke bringt.

Dieses fantastische Superheldenelement ist neu bei Jakob Arjouni. In „Chez Max“ hat er zwar schon einmal eine lässige Spielart von Zukunftsroman ausprobiert, doch ansonsten ist er, sei es mit seinen Krimis um Kemal Kayankaya, sei es mit seinen großartig pointierten Erzählungen („Idioten. Fünf Märchen“) oder der zuletzt viel gepriesenen Berlin-Komödie „Der heilige Eddy“, eher dem Realismus verhaftet.

Doch zurück zu Rick, dessen Blatt sich wendet, als ihm die Jungs einen Ausbildungsplatz in einer Berliner Gärtnerei in Aussicht stellen. Dass da ein Haken dabei sein muss, weiß der Leser sofort, und auch Rick ist nicht blöd. Sie vermitteln ihn an Pascal, der, streng gescheitelt und korrekt – Rick wird ihn später zu „Mr. White“ erklären –, die Details zur Sprache bringt: morgens Arbeit in der Gärtnerei, nachmittags Pflege eines Parks, der an einen jüdischen Kindergarten grenzt. Dieser Kindergarten steht unter Polizeischutz, Rick soll beobachten, was vor sich geht, was ihm auffällt und Berichte schreiben. Trotz großer Gewissensbisse siegt die Freude auf etwas Neues, auf eine Zukunft. Plötzlich bekommen Pläne ganz zarte Konturen, er beschäftigt sich mit dem Weggang aus Storlitz, träumt von einer kleinen Wohnung in der Hauptstadt. Dass er per Handschlag zum Spitzel des Heimatschutzes wird, wie sich die rechtsradikale Organisation nennt, will er lange nicht wahrhaben. Als er dann auch noch Marilyn kennenlernt und eine Beziehung zu dem kleinen Ninu vom Kindergarten aufbaut, wird seine Situation zunehmend schwierig. Rick muss erkennen, dass er sich keine Abweichung von den Regeln, die Pascal und sein Lehrherr aufgestellt haben, erlauben kann. Sofort steht das Storlitzer Schlägerkommando bereit und Pascal verlangt Erklärungen für sein Fehlverhalten, versucht, ihn mit seinen rechtsradikalen Argumenten auf seine kommenden Aufgaben einzustimmen.

Jakob Arjouni hat sein neuestes Buch wieder einmal in dem für ihn so typisch lockeren Stil, der nur so strotzt vor großartigen Dialogen, aus Ricks Perspektive geschrieben. Der ihn betreuende Kriminalpsychologe hat ihn um einen ausführlichen Bericht all der Geschehnisse, die einen grauenhaften Ausgang nahmen, gebeten, denn Rick sitzt hinter Gittern. Der Autor zeigt die vielen Abhängigkeiten und Verlockungen, den schmalen Grat zwischen Gefälligkeit und Gefahr, die wilde Hoffnung auf ein besseres Leben und die Tristesse der Realität. Auf wenigen Seiten vermittelt dieser wichtige Roman, dass die Gesellschaft und die Politik wach sein und bleiben müssen und dass sich niemand seiner Verantwortung entziehen kann.

Titelbild

Jakob Arjouni: Cherryman jagt Mister White. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2011.
167 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783257067552

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