„Die schwere Arbeit des Verlernens“

Marie Luise Knott erkundet „Denkwege bei Hannah Arendt“

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Nur wer an der Welt wirklich interessiert ist, sollte eine Stimme haben im Gang der Welt.“ (Hannah Arendt)

In ihrem von Nanne Meyer vortrefflich und liebevoll illustrierten, 150 Seiten starken Bändchen beschäftigt sich die Journalistin, Übersetzerin und Autorin Marie Luise Knott mit der Suche Hannah Arendts nach einer eigenen Sprache, mit ihren Wegen des Verlernens und mit ihrer „Befreiung von allen Deutungsfesseln“. Das Buch handelt, so die Autorin in ihrem Vorwort, von „Aufbrüchen aus Befangenheiten“, wie beispielsweise totalitär konstruierten Bedeutungszuweisungen und überlieferten Vorstellungen von Welt und Mensch sowie von den dadurch gewonnenen „Territorien der Freiheit“. Die aus Schock und Verstörung geborenen Handlungen des Verlernens seien allererst denkerische Aufbrüche: Im Lachen unterbreche sich das lähmende Entsetzen aus der Begegnung mit dem Phänomen Adolf Eichmanns; durch tätiges Übersetzen werde das Leid der Emigration und der Fremdheit gewendet in eine „Unbekümmertheit des Paria“, der, da er nicht in gleichem Maße in die sozialen Realitäten des Ankunftslandes verstrickt sei, in der Fremde einen freieren Blick schweifen lassen könne. Im „Verlernen des Verzeihens“ gehe es um den verzweifelten Kampf, sich Bilder und Begriffe auszutreiben, deren überlieferter Sinn und deren tradierte Bedeutung am Denken hinderten; mit dem Mittel des Dramatisierens schließlich könne der Text selbst zur Bühne werden. So erhielten die Menschen, die drohten, zu Marionetten des Sozialen zu werden, verlässliche Orte, ihre personale Einzigartigkeit zu offenbaren.

In einer Zeit, in der, wie Peter Kemper in dem von ihm herausgegebenen Band „Die Zukunft des Politischen. Ausblicke auf Hannah Arendt“ bemerkt, die politische Kultur des Westens – bei gleichzeitigem Verfall der politischen Urteilskraft – zunehmend von taktischen Manövern, „Sprachregelungen“, Image-Problemen und fruchtlosen Grundsatzdebatten beherrscht wird, verkörpert Arendts politische Theorie unverminderte Aktualität: „Gegen den blind funktionierenden bürokratischen Apparat beharrt sie auf einem genuin politischen Raum, in dem allein das Neue, Unvorhersehbare Gestalt anzunehmen vermag.“ Die Lektüre von Knotts Bändchen lässt viel von der starken Faszination und „der unverwechselbaren Eigenständigkeit und Originalität“ (Kurt Sontheimer) spürbar werden, die diese leidenschaftliche und große Denkerin auszeichnet: „Hier war eine, die suchte einen neuen Pakt der Sprache mit dem Leben.“

Das Verlernen, von dem die Rede ist, so Knott, könne man sich nicht auferlegen, und man könne es auch nicht lernen. Die vier skizzierten Denkwege entsprängen keinem Plan, sondern reagierten auf den Schock des rein Tatsächlichen und hielten als Aktion die durch den Schock entstandene Kluft offen – „und uns der Kluft gegenüber in Bewegung“. Die Kraft der Bilder und Begriffe schaffe einen verlässlichen Ort, an dem die Leser sich auch in der eigenen Ratlosigkeit aufgehoben wissen und sich selbst in wesentliche gedankliche Prozesse verwickeln könnten.

Es kann im Rahmen der vorliegenden Besprechung nicht darum gehen, alle von Knott aufgeführten „Denkwege“ nachzuzeichnen und als bekannt vorauszusetzende Inhalte zu reproduzieren – wie beispielsweise den Verlauf des Eichmann-Prozesses, Arendts Paris-Dasein im Exil oder die wichtigsten Stadien der Entwicklung ihrer politischen Theorie. Im Zentrum steht der Begriff des Verlernens – als Aufgabe, als Arbeit, als Kampf, als Zerstörung des Gewohnten und Gewussten, und damit letztlich als Befreiung: „Wo die Gewissheit aufhört, beginnt das Denken, der Aufbruch des Wissenden ins Ungewisse. Mit den tradierten Vorstellungen müssen auch deren Umkehrungen als ‚Geländer‘ des Denkens losgelassen werden“. Um zu einer solchen Freiheit zu gelangen, bedürfe es zum einen der Fähigkeit, sich durch das andrängende Wirkliche verstören zu lassen, zum anderen eines diagnostischen und eines denkerischen Mutes.

Einer der zentralen Begriffe, den sich Arendt in der Arbeit an ihrer politischen Theorie verlernt habe, führt Knott aus, sei die Idee des Verzeihens. 1950 habe das Verzeihen im „Denktagebuch“ noch ganz in der Tradition der christlichen Nächstenliebe gestanden und sei für Arendt nur als Geste der Überlegenheit denkbar gewesen. Gut zehn Jahre später aber war die menschliche Fähigkeit zu verzeihen zu einem Grundpfeiler ihrer politischen Theorie geworden: „1961, in Vita activa, hat Arendt sich den Begriff aus dem christlichen Kontext heraus in Politische verlernt; Versprechen und Verzeihen sind zu Garanten der politischen Freiheit geworden.“

Um sich den Begriff neu zu erschließen, machte Arendt sich, den Spuren Walter Benjamins, Martin Bubers, Martin Heideggers und Franz Rosenzweigs folgend, auf die Suche nach dem ursprünglichen Erleben, das hinter dem Begriff „Verzeihen“ steckt. Verzeihen mündete hier in ein „frei gehen lassen“, also darin, dem anderen die Freiheit zu einem Neuanfang zu gewähren. So zeigt sich der Begriff des Verzeihens mit Freiheit beziehungsweise Freisetzung, Realisierung der Gegenwart wie auch einem möglichen Neubeginn untrennbar verknüpft. Das Vermögen der Freiheit des Beginnens wird von Arendt als zugleich „ungeheuer“ wie auch „gefährlich“ beschrieben. Auch verweist das Vermögen und die Realisierung der Freiheit stets auf die Möglichkeit des Scheiterns: Wer um Verzeihung bitte, wisse, dass es auch die Möglichkeit gebe, unverziehen zu bleiben. Die potenzielle Begegnung mit Nicht-Verziehenem und das Wissen um die Existenz von Unverzeihlichem sind somit der Bitte um Verzeihung unhintergehbar eingeschrieben.

Im Kapitel „Dramatisieren: Die Welt als Bühne, der Text als Raum“ erörtert Knott die Dimension des Dramatischen in Arendts politischer Theorie. Arendt inszeniere ihren Text als einen Raum, so, als könne sie im Schreiben dem bedrohten Politischen einen Ort schaffen; ihr Nachdenken über die Aporien politischen Handelns werde zum Klang- und Sprechraum. Das Dramatische zeigt sich mit einer Selbstermächtigung des Subjekts und mit seiner Präsenz unmittelbar verknüpft: „Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt“, heißt es in „Vita activa“. Wie der Schauspieler Bühne, Kollegen und Zuschauer benötige, so benötige jedes Lebewesen einen verlässlichen Ort für seinen Auftritt und andere Wesen, die seine Existenz erkennen und anerkennen. Die wiederkehrende dramatische Metaphorik (Bühne, Akteur, Zuschauer) führt, nach Knott, die Frage mit sich, wozu wir eigentlich hier sind, mitten in all dem, was von sich aus da ist und auch ohne uns weiterläuft, unabhängig von uns und „jenseits von Gut und Böse“. So wie jedes gesprochene Wort eine Unterbrechung und eine Setzung sei, so wie das Handeln aus dem Augenblick den darin enthaltenen Funken herauszuschlagen vermöge, besitze jeder Mensch die Fähigkeit, den Lauf von Natur und Geschichte zu unterbrechen: „Auf den Einzelnen kommt es an – sofern er sich in die menschlichen Angelegenheiten einschaltet, den Gang der Dinge und den Lauf der Welt unterbricht und so die Vorhersehbarkeit aller Zukunft aussetzt.“

Arendt betont die besondere Fähigkeit des Sprechens, ein „Zwischen“ zu schaffen: Welt entsteht zwischen den Menschen, in einem Raum der Resonanz. Freiheit und Spontanität der Menschen sind die notwendigen Voraussetzungen für die Entstehung dieses zwischen-menschlichen Raums, in dem gelungene Politik erst möglich werden kann. Gegen „das Anwachsen von Weltlosigkeit“ fundiert Arendt das Politische in einem performativen „living room“ agierender und sprechender Menschen. Handeln und Sprechen schaffen Welt und handelndes und sprechendes Erscheinen sind „das Wagnis der Person“. So entsteht Freiheit, auch die Freiheit, Fehler machen zu dürfen. Faszinierend ist der Gedanke der Offenheit und des potenziell Möglichen: Mit jedem, der spricht und handelt, kann alles anders kommen – mit jedem, der gesprochen und gehandelt hätte, hätte alles anders kommen können. Ein jeder kann „das Spiel“, den Lauf der Welt, durch sein Erscheinen in jedem Moment wenden. So kommen „Zufall, Spiel und Augenblick“ zu ihrem Recht – und die Zukunft „wird wieder, was sie ist: rätselhaft, unerwartet, unvernünftig und unlogisch“. Im Verlernen, konstatiert Knott, habe Arendt immer neu an den Deutungsfesseln wie an den eigenen Fäden gezerrt, um „das Festspiel des Lebens“ zu wagen.

In einem mit „Transatlantische Unterschiede“ betitelten Anhang finden sich kurze Textauszüge aus dem deutsch- und englischsprachig verfassten Werk Arendts, die sich mit dem Verschwinden des Öffentlichen aus dem Leben des Politischen, mit dem Vergeben und Verzeihen sowie mit dem Handeln beschäftigen: „Die Fähigkeiten, zu verzeihen und zu versprechen, sind in dem Vermögen des Handelns verwurzelt; sie sind die Modi, durch die der Handelnde von einer Vergangenheit, die ihn auf immer festlegen will, befreit wird, und sich in einer Zukunft, deren Unabsehbarkeit bedroht, halbwegs versichern kann.“ Knott konzediert bemerkenswerte sprachlich-stilistische Unterschiede beider Fassungen, die sich auf die jeweilige Textsemantik entscheidend auswirken: Beispielsweise führe in der deutschsprachigen Version die Auflösung der Substantive in starke Verben zu einer Betonung der Verantwortung für Handlungen. In dem ansonsten sehr gut lektorierten Bändchen finden sich leider auf diesen letzten Seiten gehäuft orthografische Fehler.

Alles in allem, ist Knotts Büchlein mit Gewinn und gut zu lesen – eine als gelungen zu betrachtende Einführung auch in Arendts biografischen Weg wie in ihre denkerischen Pfade. Die Strukturierung des Gesamttextes mithilfe des erkenntnisleitenden Konzepts des „Verlernens“ überzeugt, auch wenn an einigen Stellen eine stärkere Fokussierung auf die inhaltlichen Bezüge dieses Begriffs mit dem Dargelegten wünschenswert gewesen wäre. Es findet sich vieles, was einem an der Person Arendts wie an der politischen Theorie überhaupt interessiertem Publikum bereits bekannt sein dürfte. Im gesamten Buch spürbar ist, und dies in positiver Weise, die Begeisterung Knotts für das Werk Arendts – und für seine überaus aktuellen Potenziale, die über die Offenheit des individuellen Anfangen-Könnens und über ein Weltorientierung vermittelndes Denken weit hinausgehen: „Was das Leben uns versprochen hat, das wollen wir dem Leben halten.“

Titelbild

Marie-Luise Knott: Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
150 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783882216059

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